Der Kniefall, der seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd zur weltweiten Verständigungsgeste geworden ist, ist kein duckmäuserischer Bückling, schreibt Jochen Wagner in diesem Beitrag. Vielmehr ist eine leibhaftige Geste zum politischen Symbol avanciert. Dieses kneeling vereint Trauer und Protest – und es unterbricht ostentativ das bisherige Mitmarschieren.
Georg Floyd wurde niedergekniet – öffentlich, vom Polizisten Derek Chauvin am 25. Mai 2020. „I can’t breathe“ flehte er in Todesangst, ohne dass von ihm eine Gefahr ausging. Obwohl von einem anderen Polizisten darauf hingewiesen, ließ Chauvin achteinhalb Minuten nicht locker. Der 46-jährige Afroamerikaner erstickte. Auch nach seinem Tod konnte man sich die Tortur im Internet beliebig oft anschauen. 6000 Menschen nahmen in seiner texanischen Heimatstadt Houston in der Kirche The Fountain of Praise von ihm Abschied – gewiss einige mit geballter Faust statt stiller Bekreuzigung.
Einmal mehr geriet Polizisten das Hüten der Ordnung zu einem herzlosen Gewaltakt. Dabei kommt der Begriff Polizei, hierzulande in der Gassenweisheit als „dein Freund und Helfer“ konnotiert, ja von der griechischen polis (Stadtstaat) bzw. politeia (Staatsverwaltung). Diese exekutive Körperschaft soll für Ruhe durch das Recht im Gemeinwesen sorgen. Doch die rassistischen Fanale wiederholen und wiederholen und wiederholen sich. Als ob es on killing, so ein Buchtitel zur Logik der polizeilichen bzw. militärischen Ausbildung in den USA, keinerlei innere Hemmung gebe. Ist das Hass, oder nach außen gewandter Selbsthass, so maßlos gegen Schwarze oder Farbige vorzugehen?
Es zeugt von einem barbarischen Kodex, das den Tätern in einer irgendwie schuldlosen Unschuld weder Schuld noch Scham abzuspüren, geschweige denn bewusst zu machen ist. „Defund the police“ ist denn eine immer lauter werdende Forderung in den USA. Die aktuellen Protestbewegungen in den USA, in denen bürgerkriegsartige Szenen aufflackern, in der Resonanz noch von den traumatischen Dynamiken des Corona-Virus verstärkt, artikulieren sich mit der Bewegung Black lives matter aber nicht nur rhetorisch. Vielmehr ist eine leibhaftige Geste zum politischen Symbol avanciert: sich auf ein Knie zu knien.
Dieses kneeling vereint dabei Trauer und Protest, Trost und Einspruch. Fern jeder devoten, servilen, demütigen oder sich unterwerfenden Konnotation, verdichtet sich gerade im stillen Niederknien eine bekennerische Energie, die in der Form der body politics besonders beredt wirkt – und zwar längst global. Es ist kein duckmäuserischer Bückling. Das Niederknien sagt, indem es zeigt, wie spannungsgeladen die Haltung der abertausenden Demonstranten ist, aufzustehen, loszugehen, mit aufrechtem Gang endlich Martin Luther King’s I have a dream oder Malcolm X‘ politische Utopie endlich zu verwirklichen. Nie mehr rassistische Unterdrückung! „Say it loud: I’m black and I’m proud!“ – so hat sich James Brown einmal den Frust der Diskriminierung aus dem Leib geschrien.
Slogans und Gesten motivieren zu zivilem Ungehorsam
Exemplarisch für den Blues oder den Jazz etwa Mama Rose von dem Saxophonisten Archie Shepp, der in diesem Black-Power-Manifest aus Blue notes und Rhythmus zunächst singt: Oh Mama Rose … we are the victims … – und erzählt, oh Mama Rose took me to Sunday school by the hand, und nun nach Widerstand wettert, reeeevoolluution, revo revo revo revo revolutionnn, um ein für allemal alles Knechtische zu besiegen: never never never never never again. Oh Mama Rose! Nun heißt die Parole: Take a knee.
Inzwischen erzeugt das Vexierbild oder die Kippfigur vom auf/in die Knie gehen einen Dominoeffekt. Verbum et signum: Slogans und Gesten motivieren zu zivilem Ungehorsam. Trauer und Schmerz, Respekt und Wut, Solidarität und Protest lassen die Füße und Hände nicht ruhen. Plakative Parolen wie Trump Lies, People Die in den USA oder Silence is Violence auf einer Demonstration in Köln gegen deutsche Polizeigewalt, in deren Gewahrsam Aamir Ageeb, Achidi John, Oury Jalloh zu Tode kamen (SZ-Artikel vom 9.6.2020: https://www.sueddeutsche.de/politik/rassismus-polizeigewalt-deutschland-1.4930521), fusionieren weltweit mit dem Sturz von Denkmälern und Statuen, die auch Sklavenhändler verherrlichten und an die Denkmalstürze von Stalin, Lenin und vielen weiteren erinnern.
So werden Trost und Einspruch durch das Niederknien symbolisch zu einem Flaggezeigen oder Farbebekennen. Der konfessionelle Akt erhält seine ästhetische Divinisierung durch eine Mimesis der Verbeugung: Sie reklamiert die Würde der Opfer, benennt das Verbrechen und erinnert die Namen der Ermordeten, Ihnen, so etwa Walter Benjamin, gilt es als den Namenlosen ein Gedächtnis, nicht den Berühmten. Die historische Konstruktion sei dieser Aufgabe geweiht. So gleicht das Knien mit seiner stillen Demut einem Impuls, einer Gegenfinalität zu Trumps Hochmut. Doch wie erwächst aus solchem Eingedenken mehr als eine rituelle Gegenwelt ohne Rassismus – eine andere Gesellschaft?
„Was ist das in uns, was da lügt, stiehlt, hurt und mordet?“
„Race does not exist, but it does kill people“, so die französische Soziologin Colette Guillaumin. Kann es bei eingefleischten Rassisten ein humanes Reset geben? Black lives matter – diese Bewegung zitiert aus dem Vergessen und Verleugnen heraus den barbarischen Mythos der Gewalt herauf. Es ist hier nicht Zeit noch Raum die Genesis des Rassenhasses aufzuhellen. Die Willkür agonaler Destruktivität erinnert an den gesenkten oder erhobenen Daumen des Tyrannen im Kolosseum zu Rom. Das Signal vom up or down, jene Deixis, das bloße Anzeigen der Tötung oder Begnadigung des unterlegenen Gladiators, illustriert im antiken Theater Agon die spontane Launenhaftigkeit: methodischer Nihilismus, Live-Act als Unterhaltungsspektakel. Funktionieren so nicht auch Verherrlichung oder Vernichtung, religiöse Rituale von Erwählung oder Verwerfung, sowie der psychologische Umschlag von Idealisierung in Fäkalisierung? Wird nicht immer erst gejubelt und alsbald gekreuzigt? Im Rassenhass scheint zumindest die evident selbstgerechte Gewalt durch. Ku-Klux-Klan-Mitglieder schockieren mit einer militant unschuldigen Schuld wie sie auch den Vernichtungsbefehl blind gehorsamen Nazis zu eigen war: Der vermeintliche Feind galt als Dreck, Ungeziefer, Entartung und damit war die Ausrottung geboten. Die „Banalität des Bösen“ ist also mit Hannah Arendt keine Realabstraktion von ihrer barbarischen Monströsität. Das Niederknien unterbricht ostentativ das Mitmarschieren, erzwingt gleichsam eine Zäsur in allen vertikalen Imaginären, bettelt nicht um Gnade, sondern fordert ein Recht auf Gerechtigkeit.
Das Feindbild – was auch immer es sei – wird zum leeren Signifikanten dekonstruiert, der sich akut und willkürlich mit einem Opfer füllt. Wie also kommen wir weiter mit der Frage von Büchners Danton „Was ist das in uns, was da lügt, stiehlt, hurt und mordet?“ Was entscheidet in uns, wer überwiegt vom Clinch zwischen der Anlage zum Guten und dem „Hang zum Bösen“ (Kant)? Es sind hier zunächst nur vertikale, hierarchische Gesten mit politischer Symbolkraft angesprochen. Was wir oben anhimmeln, wem wir in uns gehorchen, macht ‚Es‘ uns auch links und rechts menschlich? Ist das Geheimnis der biblischen Menschwerdung Gottes vielleicht: Transzendenz entsteht seitwärts?
„Wahrheit gibt es nur zu zweit“ meinte Hannah Arendt. Haben wir neben einem Winken als Gruß, dem Händedruck, einer Umarmung, dem Kuss, oder wie sich die Kids heute mit den Fäusten dezent grüßen, oder dem Tanz wie vielleicht dem Tango horizontal motivierte, verbindende, Trennung und Differenz überschreitende Körpergesten? Wie könnte so eine Mimesis des Kontakts aussehen in body politics? Die Liebe heißt es, hebt die Differenz zwischen Menschen nicht auf, sondern macht sie lebendig. Differenz vitalisieren – ins Unähnliche improvisieren, wie in der Musik, im Jazz? „There is one beat in universe – bapp bapp, bapp bapp“ lachte der Schlagzeuger Chico Hamilton und assoziiert mit Beat wie Beatles beatness, das Glück.
Wie in der Jamsession kann man in einem Jazzstandard aus dem Realbook beim Solo die gemeinsamen Töne verschiedener Akkorde betonen, also ins Ähnliche spielen; man kann aber auch die unterscheidenden Töne interpolieren und damit das gemeinsame Spiel ins Unähnliche öffnen. Wie sehen Gesten auf Augenhöhe aus, worin das Gemeinsame die Unterschiede verbindet und das Differente das Einheitliche unterscheidet? Es muss etwas mit einem Sound zu tun haben, der von klein an spielerisch uns zur Improvisation mit Zufällen, Neuem, Fremden verlockt: „Grade klare Menschen wären ein schönes Ziel, denn Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel“ (Bettina Wegener, Kinder). Halt, eine Geste fällt mir ein, die Trost und Einspruch, Klage und Anklage verbindet. Und zwar entmilitarisiert, den Zug nach oben abrüstet: Jimi Hendrix spielt in Woodstock im August 1969 Purple Haze. Bei der Textzeile ‚scuse me while I kiss the sky‘ streckt er die Linke nach oben und weist mit dem Zeigefinger gen Himmel. Vergib mir, dieweil ich den Himmel küsse.
Inzwischen wurde wieder ein Schwarzer von der US-Polizei erschossen.
Purple haze all in my eyes
Don’t know if it’s day or night
You got me blowin’, blowin’ my mind
Is it tomorrow, or just the end of time?
Purple haze, all in my brain
Lately things they don’t seem the same
Actin’ funny, but I don’t know why
Excuse me while I kiss the sky
Purple haze, all around
Don’t know if I’m comin’ up or down
Am I happy or in misery?
What ever it is, that girl put a spell on me
Help me
Help me
Oh, no, no
Ooh, ah
Ooh, ah
Ooh, ah
Ooh, ah, yeah!
Purple haze all in my eyes
Don’t know if it’s day or night
You got me blowin’, blowin’ my mind
Is it tomorrow, or just the end of time?
Ooh
Help me
Ahh, yeah, yeah, purple haze
Oh, no, oh
Oh, help me
Tell me, tell me, purple haze
I can’t go on like this
you’re makin’ me blow my mind
Purple haze, n-no, no
Jochen Wagner
(Mehr über den Autor hier)
KLEINER ÜBERBLICK
Wounded Knee – Kniefall als Geste der Verweigerung
Dass antirassistische und Civil-Rights-Bewegungen kaum etwas am Rassismus änderten, führte etwa bei einzelnen Sportlern zu Verweigerungsgesten. What a wonderful world – if not, soll Louis Satchmo Armstrong in einem Interview ergänzt haben. Jenem if not ähnlich hatten es die amerikanischen NFL-Football-Profis Colin Kaepernick und Eric Reid satt, beim Abspielen der Nationalhymne patriotischen Stolz zu zeigen. Statt aufzustehen, blieb man sitzen. Der Veteran und Footballfan Nate Boyer riet stattdessen, „to take a knee“. Fortan kniete der Quarterback. Und fortan fand dieses Kneeling auch in den kommenden Unruhen angesichts tödlicher Schüsse der Polizei auf Schwarze immer mehr Nachahmer. Kaepernick erhielt ab 2017 keinen Vertrag mehr. Seine Haltung jedoch, aus der Heuchelei, der Verleugnung, der Anpassung, des Wegschauens zu desertieren, verlieh dem Niederknien eine politische Semantik.
Der Bürgerrechtler John Lewis konterte etwa Donald J. Trumps Schimpfkanonade (Artikel in der NZZ vom 12.6.20): „During another period we knelt. There is nothing wrong with kneeling down to stand up against injustice“. Dieses Knien auf nur einem Knie lässt sich nun weder mit der antiken Verachtung als barbarischer, unwürdiger Geste, noch mit dem Knien auf zwei Knien, wie es in den kirchlichen, liturgischen, kasualischen Handlungen des Segnens und Handauflegens in Taufe, Trauung, Abendmahl vergleichen. Auch nicht mit Willy Brandts Kniefall auf beide Knie am 7.12.1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos, um die Schuld am Krieg und Massenmord zu bekennen.
Sowohl das Niederknien des Königs Heinrich IV. – nach einem Bitt- und Bußgang vom Dezember 1076 bis Januar 1077 vor Papst Gregor VII in der Burg Canossa, als auch sämtliches Knien bei Salbung, Ritterschlag, Auszeichnungen …, auch nicht das Knien und Küssen des Bodens durch den Papst nach einem Auslandsflug ähneln dem to take a knee. Entgegen allen Ergebenheitsadressen ist das Kneeling rebellisch und sucht keine höhere Weihe, sondern sucht den Konflikt. Mögen alle traditionellen Kniebeugen der Matrix Erhöhung/Erniedrigung verhaftet sein, so ist das jetzige Knien eine emanzipatorische Haltung. Es gilt, destruktive Hierarchien zu unterlaufen oder ihnen in zivilem Ungehorsam die Stirn zu bieten.
Das Kneeling zeigt sich in der in den Himmel gestreckten Faust der US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die am 16.10.68 auf dem Siegertreppchen im 200-Meter-Lauf mit Gold und Silber bei der Olympiade in Mexiko 1968 sich als Black-Power-Aktivisten bezeugten, verwandt. Deren Gewalt-Symbolik atmet denn auch U-Präsident Trumps Geste, als er – zum Entsetzen der ihm nahe stehenden Evangelikalen und Großkirchen – am Pfingstmontag mit der Rechten die Bibel gen Himmel hielt: „Trump is weaponizing the Bible and the Christian Faith“ (DIE ZEIT vom 10.6. 20). Stolz, zuvor den Platz vor dem Weißen Haus mit Polizeigewalt geräumt zu haben.
Mittlerweile knien weltweit auch die Sportler – wie die deutschen Fußball-Profi-Ligen. „Zeige, dass es falsch ist“ fordert etwa Anthony Ujah vom 1. FC Union Berlin und protestierte schon vor sechs Jahren gegen tödliche Polizeigewalt mit einem T-Shirt unterm Trikot, mit der Aufschrift can’t breathe. Dass einem tödlich die Luft ausgeht, macht auf Knien auch die Ereignisse von Wounded Knee wieder lebendig. Der Name referiert zum Einen die Schlacht am Little Bighorn am 25. Juni 1876, bei der das 7. US-Kavallerie-Regiment von den Sioux und ihren Verbündeten nahezu vollständig vernichtet wurde. Einer der letzten großen Siege der Sioux unter Sitting Bull, der dann von eigenen Leuten umgebracht wurde, rief die Rache der Angehörigen des 7. US-Kavallerie-Regiments herauf: Beim Massaker von Wounded Knee (im Lakota-Dialekt: Chankpe Opi Wakpala) am 29. Dezember 1890 auf dem Gebiet der heutigen Ortschaft Wounded Knee in der Pine Ridge Reservation in South Dakota wurden 300 wehrlose Angehörige verschiedener Sioux-Indianerstämme ermordet. Das Sachbuch „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“ (Bury My Heart at Wounded Knee) des amerikanischen Autors Dee Brown 1970 diente auch dem gleichnamigen Film 1973 als Vorlage. Das Motiv nahmen denn auch einige Musiker auf, wie die Rockgruppe Redbone 1973 mit dem Hit We Were All Wounded at Wounded Knee, oder 1992 von Buffy Sainte-Maries das Album Coincidence and Likely Stories mit dem Lied Bury My Heart at Wounded Knee. Es gab ähnliche Veröffentlichungen in der CSSR, der DDR, der UdSSR, als auch von Johnny Cash den Song Big Foot auf seinem Album America 1972. Verschiedene weitere Kompositionen hielten Wounded Knee wach. Zuletzt ein Heavy Metal Wounded Knee von Thobbe Englund 2017 auf dem Soloalbum Sold My Soul.
Bild: Dr. Jochen Wagner (Foto: dgr/eat archiv)
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