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Diskriminierung sichtbar machen

Während es früher galt, Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund zu überwinden, wird heute in Anti-Rassismus-Workshops gelehrt, Diskriminierung auszuschließen. Für die Welt des Films ist das problematisch, findet der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli. Für ihn liegt die eigentliche Herausforderung darin, negative Affekte, verletzende Aussagen und Handlungen, filmisch zu verhandeln und sich damit auseinanderzusetzen.

 

von PD Dr. Özkan Ezli

Er spiele diese Rollen, um sie irgendwann nicht mehr spielen zu müssen, bemerkte der deutsch-türkische Schauspieler Adnan Maral bei einem Radiointerview im Herbst 2014 im Bayrischen Rundfunk. Dabei bezog er sich auf klischeebeladene Rollen wie den überaus freundlichen Gemüsehändler, den verschlossenen Gastarbeiter oder den heranwachsenden Kleinkriminellen. Figuren wie sie beispielsweise in den öffentlich-rechtlichen Produktionen, aber auch in den Kinofilmen der 1970er, 80er und teils 90er Jahren von türkisch-, marokkanisch- oder italienischstämmigen Schauspielern gespielt oder von deutschen und aus der Türkei stammenden Regisseuren inszeniert wurden. Einerseits waren mit diesen Rollen gesellschaftliche Platzanweisungen und kulturelle Zuschreibungen im Positiven (gastfreundlich) wie im Negativen (ängstlich, unterentwickelt) verbunden. Andererseits spiegelten sie aber auch eine sozialstrukturelle Realität wider, weil der Großteil der Einwanderer aus Italien, der Türkei, Portugal und Griechenland aus bildungsfernen, sozioökonomisch einfachen und prekären Verhältnissen kam.

Anstelle der sozialen Realität der Gastarbeiter setzten sich alsbald kulturelle Stereotypen durch. So paradox es klingen mag, waren es neben dem Erstarken des Rechtsradikalismus in den 1980er Jahren mitunter auch die empfindsamen und sensiblen Zuwendungen von Ausländerbeauftragten und Kirchen in den Jahren zuvor, die – völlig unbeabsichtigt – zur Verfestigung von Identitäten und Stereotypen beitrugen. Vorstellungen, mit denen sich die nachfolgende Generation nicht mehr identifizieren konnte und Zuwendungen, die sie nicht mehr annehmen wollte. Für Adnan Maral war die Figur des Metin Öztürk in der Serie Türkisch für Anfänger (2006-2009), ein verwitweter Kommissar mit türkischen Wurzeln, der als Vater in einer deutsch-türkischen Patchworkfamilie sein Glück findet, eine Rolle, mit der er den Kampf gegen Stereotypisierungen mittels der Komödie spielerisch hinter sich lassen konnte.

Doch auch im Genre des Dramas wurden bisherige Stereotypen gebrochen und setzen sich von den Platz- und Kulturzuschreibungen früherer Produktionen ab. Es sind junge Regisseurinnen und Regisseure wie Yüksel Yavuz, Ayşe Polat, Thomas Arslan, Fatih Akın, Buket Alakus, Kutlu Ataman und andere, die Mitte der 90er Jahre beginnen, neue und andere Drehbücher zu schreiben. Mit ihrem Credo nicht länger „der Türke vom Dienst“ sein zu wollen, kreieren sie Rollen, die die Vorstellung fixierter Identitäten und sozialer Positionen von zuwandernden Menschen in Frage stellen. Ayşe Polat erzählt in Auslandstournee (1999) die Geschichte eines nach Deutschland migrierten homosexuellen türkischen Varietésängers. Einerseits bringt sie damit eine bis dahin unvorstellbare Figur auf die Leinwand, andererseits belässt sie es keineswegs bei dieser sexuellen Identität, sondern erzählt im Kern die Geschichte einer Familienfindung.

Die Frage des Existentiellen und Sozialen durchzieht ebenfalls die international prämierten Filme Kurz und schmerzlos (1998) und Lola und Bilidikid (1999). Doch trotz ihrer heteronormativen, homo- und transsexuellen Figuren ist das Motiv ihrer Geschichten nicht die kulturelle oder sexuelle Identität, also nicht die Diversität ihrer Protagonisten, sondern vielmehr das soziale Thema der Freundschaft. Heute allerdings würde man aus identitätspolitischer Sicht diese Filme entweder als toxisch männlich (Kurz und schmerzlos) oder als toxisch emanzipativ (Lola und Bilidikid) abwerten. Damit wird man ihnen allerdings nicht gerecht. Denn mit ihren Erzählungen war eine über Identitätsfragen hinausgehende übergeordnete politische Intention verbunden. Insgesamt ging es den Filmen der 1990er und beginnenden 2000er Jahre mit ihrer narrativ existentiellen und sozialen Diktion jenseits des Nationalen und Sexuellen darum, kulturelle Zuschreibungen zu problematisieren, die Vorstellungen von Mehrheit und Minderheit zu hinterfragen, Diskriminierungen zu verhandeln und zu überwinden, um erstens jede Form von Opferstatus und emotionaler Betroffenheit abzulehnen und zweitens neue Formen des Zusammenlebens in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Heute, 20 Jahre später, ist der Begriff der Vielfalt im aktuellen Diskurs der Medien nicht mehr wegzudenken. Die Aufgabe, vor der sich die Filmbranche gestellt sieht, ist gesellschaftliche Vielfalt im Film vor und hinter der Kamera angemessen zu repräsentieren. Dabei stehen heute wie gestern Fragen im Raum wie: Welche Ideale und Vorstellungen werden in den Filmen vermittelt, welche “Realitäten und Identitätsvorlagen werden geprägt”, wie es im Tagungskonzept der Tagung “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film” heißt. Fragen, die die Filmschaffenden Dekaden zuvor ebenfalls beschäftigten, die schlussendlich auf die zentrale Frage hinauslaufen, welche Geschichten werden erzählt? Doch im Bemühen, Vielfalt zu repräsentieren, besteht in der Entstehung heutiger Drehbücher und Filme ein eklatanter Unterschied zu früher. Wenn Diskriminierung etwas war, dass es zuvor zu überwinden galt, indem man sich mit diesen Erfahrungen, Diskursen und gesellschaftlichen Realitäten auseinandersetzte, wird heute die Darstellung von Diskriminierung im Rahmen einer neuen Sensibilisierung und eines neuen Opferdiskurses ausgeschlossen; durch Workshops zu Diskriminierung und Antirassismus in der Filmbranche, durch die Etablierung korrekter und nicht verletzender Sprechweisen, wird der erzählerischen Austragung negativer Affekte, verletzender Aussagen und Handlungen ein Riegel vorgeschoben. Eine mögliche Verhandlung von Diskriminierung findet so keinen Eingang in die aktuell entstehenden Produktionen.

Dabei sind heutige Einwanderungsgesellschaften alles andere als frei von negativen Affekten wie Hass und Wut, diskriminierenden und rassistischen Handlungen. Allein das Aufdecken der NSU-Morde von 2011 nach dem Jahrzehnt der Integration, die Anschläge von Halle 2019 und Hanau 2020 und die Entwicklung der AfD von einer zunächst eurokritischen national gesinnten zu einer äußerst rechtslastigen Partei dokumentiert diese eindrücklich. In Österreich sehnt sich mehr als 40 Prozent der Bevölkerung nach einem starken Führer. Und dabei ist dieses Problem keineswegs allein ein rein deutsches und allein eines des alten weißen Mannes. Bei den anstehenden Wahlen in Frankreich, dem Geburtsort unserer demokratischen Ordnung, versammeln nach Prognosen die aktuellen vier rechten Kandidatinnen und Kandidaten von Marine Le Pen bis zum jüdischstämmigen Eric Zemmour knapp 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich. 2017 feierten sehr viele türkeistämmige deutsche Bürgerinnen und Bürger das antidemokratische Verfassungsreferendum in der Türkei, viele russischstämmige Menschen in Deutschland identifizieren sich mit Wladimir Putin. Es sind Menschen, die es trotz ihrer Affektlage und Wahlentscheidungen vorziehen, in einer Demokratie, in der Bundesrepublik, weiterzuleben.

Gesellschaftliche und identitätspolitische Widersprüche, Demokratiefeindlichkeit, Rassismen und Diskriminierungen liegen auf der Straße und verbreiten sich im Netz. Und genau sie gilt es in eine erzählerische Form zu übersetzen, um ihnen begegnen und um auf sie reagieren zu können. Das heißt nicht, dass wichtige Fragen, wie “Wer entscheidet eigentlich darüber, welche Geschichten erzählt werden?” außen vor bleiben müssen. Keineswegs. Und es ist auch entscheidend, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft sukzessive und repräsentativ in den Kulturentscheidungen irgendwann verstärkt widerspiegelt. Doch hilft es weder einer unterdrückten Gruppe noch der Demokratie, wenn erstere auf „eine psychosoziale Revolution ihrer Unterdrücker warten muss, bevor sie sich durchsetzen kann“, wie es der schwarze Linguist John Hamilton McWhorter kürzlich pointiert formulierte (Die Zeit, 26.01.22).

Seid empfindsam war in der deutschen Migrationsgeschichte schon einmal die Parole und sie hat, auch wenn sie den sozioökonomischen Bedingungen der damaligen Gastarbeiter angemessen war, ebenfalls zu Stereotypen und fixierten Identitäten geführt, aus denen sie sich erst mit Dramen und Komödien wieder befreien mussten. Daher ist es unumgänglich, statt Diskriminierungen aufgrund von Sensibilitäten auszuschließen, sie vielmehr sichtbar zu machen, ihren Mechanismus darzustellen. Um ihnen mit starken Figuren und starken Geschichten begegnen, sie letztlich für sich und für die Vielfalt der Gesellschaft überwinden zu können. Und bei dieser dringlichen politischen Frage ist es zweitrangig, ob man ein Mensch mit Einwanderungsgeschichte, alteingesessen, heteronormativ, lesbisch, homosexuell, nonbinär, ein Mensch mit Behinderung oder transgender ist. Die eigentliche politische Frage weist über individuelle Befindlichkeiten und Identitäten hinaus.

 

 

Über den Autor:

PD Dr. Özkan Ezli ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er widmet sich kulturtheoretischen und -praktischen Studien, mit einem transkulturellen und mobilitätsbezogenen Schwerpunkt auf Basis von Literatur-, Film-, Sozial-, Debatten- und Theorieanalysen sowie materieller Kultur. Promoviert hat sich Özkan Ezli mit einer komparativ kulturanalytischen Arbeit zu Autobiografien und Reisebeschreibungen türkischer, arabischer und deutscher Provenienz aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie ist 2012 unter dem Titel Grenzen der Kultur. Autobiografien und Reisebeschreibungen zwischen Orient und Okzident erschienen. Zuletzt wurde sein Buch Narrative der Migration. Eine andere deutsche Kulturgeschichte, das zugleich seine Habilitationsschrift ist, mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2020 und mit dem Open-Access-Preis 2021 des De Gruyter Verlags ausgezeichnet. Aktuell lehrt Ezli im Deutschen Seminar an der Universität Tübingen als Privatdozent und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster zur Gefühlskultur in der Einwanderungsgesellschaft zwischen Verweigerung und Teilhabe.

 

Hinweis:

Özkan Ezli ist zu Gast auf der Tagung “Sehen und gesehen werden – Teilhabe im Film”, die die Evangelische Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Filmfest München (Infos dazu hier) vom 25.-27. März 2022 veranstaltet. Alle Informationen zum Programmablauf und den Anmeldemodalitäten, finden Sie hier.

Dieser Beitrag ist zugleich Gastkolumne im März-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Mehr dazu hier.

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Bild: Özkan Ezli (Foto: privat)

 

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