Vor 100 Jahren erwarb der Philosoph Walter Benjamin den “Angelus Novus” von Paul Klee, den dieser im Jahr 1920 geschaffen hatte. In seinen “Thesen über den Begriff der Geschichte” setzt Benjamin dem Angelus Novus ein Denkmal. Studienleiter Dr. Jochen Wagner schreibt in diesem Beitrag, was es mit diesem und anderen Engelsbildern auf sich hat.
HeiligDreiKönig war heuer anders. Die Sternsinger Caspar, Melchior, Balthasar kamen nicht an die Haustür, um das Neue Jahr unter Gottes Schutz und Segen zu stellen. Die Weisen aus dem Morgenland zählen als Sterndeuter des Sterns von Bethlehem freilich zur Geschichte der Flucht nach Ägypten. Bekanntlich bekamen der Josef wie die Drei Weisen vom Engel des Herrn bzw. im Traum die Weisung, Herodes zu meiden. Bis heute schreit sein Kindermord zu Rama zum Himmel. Indes überlebt die Heilige Familie das Herodianische Treiben in Ägypten. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Engel des Herrn, so erzählt der Evangelist Matthäus.
Schutzengel sind bis heute attraktiv. Sie sind nicht entzaubert und auch nicht gänzlich zum irdischen Schutzmann säkularisiert. Noch jedes Kind kennt das Spiel an den Händen der Eltern, als Engelchen Engelchen flieg gen Himmel zu schwingen. Selbst wenn die himmlischen Heerscharen oft schmerzlich vermisst werden: in Taufsprüchen wie “ Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einem Stein stoßest“. (Psalm 91, 11f) sind sie populär. Einst mimte Marlene Dietrich den Blauen Engel, heute sendet der ADAC seine gelben Engel aus und manche Straße säumt die Mahnung Gib deinem Schutzengel eine Chance. Nicht zuletzt machen die weihnachtlichen Rauschgold-Engel jedweden biblischen Rache-, Würge- und Todesengel vergessen.
Gewöhnlich erfährt man wenig vom Schicksal eines Engels. Eben jedoch wurde ein Engel 100 Jahre alt. Der Jubilar ist der Angelus Novus. Geschaffen hat ihn 1920 Paul Klee als Aquarell, das sich seit 1989 im Israel-Museum zu Jerusalem befindet. Die rötlich-bräunliche Zeichnung dürfte einer sehr frühen Motivgruppe von Engeln zwischen 1915 und 1920 entstammen. Sie seien Stenogramme unbekümmerter Heiterkeit und Geschöpfe im Vorzimmer der Engelschaft, so Klee. Auch Walter Benjamin kennt im Kapitelchen Ein Weihnachtsengel in seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert so einen sich erst noch bildenden Engel. Sind ihm die Lichter draußen ein Sternbild, so spürte er im Wohnzimmer „eine fremde Gegenwart im Raum. Es war nichts als ein Wind, – >>Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind<< – mit diesen Worten hatte sich der Engel, der in ihnen begonnen hatte sich zu bilden, auch verflüchtigt“ (WB, G.S. IV.1.283). Es sind Engel im Werden, und Klee sei der einzige Maler, der ihn berühre, schreibt Benjamin 1917. Als ihm seine Frau Dora 1920 Klees Aquarell Vorführung des Wunders (ähnlich dem Motiv Servus/Engel bringt das Gewünschte) schenkt, ist Benjamin begeistert. Zufällig sieht er dann den Angelus Novus im Winter 1920/21 und kauft ihn Ende Mai/Anfang Juni 1921 für 1000 Mark in der Münchner Galerie Goltz. Benjamin ist das rote Kleeblatt ein Gegenstand unausschöpflicher Assoziationen. Sei es als Botschafter der Kabbala, als Selbstporträt namens Agesilaus Santander oder als Mischung aus Kind und Menschenfresser, sei’s als Namensgeber für eine nie erschienene Zeitschrift namens Angelus Novus oder als Patron für eine phantasierte Universität Muri. Verliebt in Toet Blaupott ten Cate, nennt er sie Angela Nova-Dame, und reformuliert die Kant’sche goldene Regel kafkaesk, „handle so, dass die Engel zu tun bekommen“ (Gershom Scholem, WB und sein Engel, Ffm 1967ff). Mit übergroßem Kopf, emporgestreckten Armen, die ein Paar Flügel andeuten und Vogelfüßen ähnelnden Beinen mit drei Zehen, signifikanten Augen, Nase und Mund voll bissiger Zähne, schier vom Sturm zerzausten Locken, die Schriftrollen ähneln, wird der Junge Engel Klees als Benjamins Engel der Geschichte durch die These IX in den Thesen über den Begriff der Geschichte (1940, G.S, I, 2, 691ff) berühmt:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her? Wie der alttestamentliche Prophet schaut der Angelus Novus ins Vergangene. Die Katastrophe vor Augen, kehrt er der Zukunft den Rücken zu. Sie scheint eine apokalyptische Fortschreibung der Trümmerlandschaft zu sein. Die Auslegungen der Thesen sind Legion. Sie bilden nicht weniger als Benjamins profan erleuchtete messianische Theologie, zu der er die größten Missverständnisse befürchtete. Vexierbildlich schwinge in Bildern der profanen Ordnung des Glücks unveräußerlich die sakrale Ordnung der Erlösung mit. Wie im Theologisch-politischen Fragment skizziert Benjamin ein Messiaspostulat: der Messias muss kommen, soll die Welt keine ausweglose Immanenz sein. Die Täter blieben sonst auf ewig Täter, die Opfer auf ewig Opfer – das bloße Eingedenken der Namenlosen unter die Räder gekommenen war die letzte Aufgabe der ihnen geweihten historischen Konstruktion. Bekanntlich nahm sich Benjamin im September 1940 in Port Bou auf der Flucht vor den Nazis das Leben – Dani Karavans eisernes Denkmal erinnert daran. Der flüchtige, Sturm erprobte Angelus Novus, der Jahrzehnte Schutzengel Benjamins in seinen Berliner und Pariser Arbeitszimmern war, aber überlebte wundersam und fand über Georges Bataille, Adorno und Gershom Scholem Zuflucht im Tresor des Israel Museums Jerusalem. Als Kippfigur zwischen Dämonischem, Luziferischem, Kannibalischem und Menschenähnlichen war der Angelus Novus Benjamins wichtigster Besitz. W a s das himmlische Kleeblatt freilich schaut, darf mit einem ebenfalls 1920/1921 von Benjamin verfassten Fragment fokussiert werden. In Kapitalismus als Religion (G.S. VI, 100ff) reflektiert Benjamin das kabbalistische Tikkun, die messianische Wiederherstellung des zertrümmerten Seins, aus der Sicht einer entzauberten, transzendental obdachlosen Welt. Der Kapitalismus, Motor des Fortschritts, unterwegs zur globalen Warenform für alles, was ist, sei eine essentiell religiöse Erscheinung. Er sei erstens die vielleicht extremste reine Kultreligion ohne Dogmatik oder Theologie, zweitens ein Kultus permanenter Dauer sans rêve et sans merci, drittens ein nicht versöhnender, sondern verschuldender Kultus und viertens ein Kult ohne Reformation, der selbst Gott in die Zertrümmerung des Seins hineinreiße. Wer nun kann, was der Angelus Novus nur möchte, die Trümmer zusammenfügen und die Toten erwecken, also alles Zerbrochene heilen? Diese geschichtstheologische Forderung sei unsere „schwache messianische Kraft“ (ebd. These II).
Gib Gas, ich will Spaß
Wenn noch Sigmund Freud rät, was man nicht erfliegen kann, muss man sich erhinken, dann feiern wider Benjamins linke Ikone mit dem Rücken zur Zukunft die Künstler des Futurismus in Italien den Fortschritt. Wo wir sind, da ist vorne! So rasen sie euphorisch der Zukunft entgegen. 1909, 1910, 1911 erscheinen ihre jubilatorischen Manifeste. Unter der Autorenschaft von Fillipo Tomaso Marinetti rauschen sie, „allein mit den Betrunkenen“ und deren „unsicherem Flügelschlag“ (Umbro Apollonio, Der Futurismus, Schauberg 1966ff) die entfesselte Technik. „Los, Freunde. – Wir werden der Geburt des Kentauren beiwohnen und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen“ (ebd. 30). Im Lob der Fabrik bzw. dem Antlitz von gutem Fabrikschlamm „diktieren wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde. „So erscheint am 20. Februar 1909 in Le Figaro, Paris, Das futuristische Manifest. Es besingt die Liebe zur Gefahr, die Kühnheit und Auflehnung der Dichtung, die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den salto mortale. „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine Schönheit bereichert hat: Die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen – ein aufheulendes Auto … ist schöner als die Nike von Samothrake“ (ebd. 30ff). Jetzt „gibt es Schönheit nur noch im Kampf“ und die „Dichtung … als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte“, die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufzubrechen“. „Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen“. Dazu wollen sie „den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt“ und den „Arsenalen und Werften“ sowie den „Fabriken … Beifall klatschen“ (ebd, 33f). „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt“. Und so gebärdet sich der Futurismus selber als ein Sturm, „die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zu zerstören“ – diese Friedhöfe, Schlafsäle, Schlachthöfe der Künstler. „Seinen Traum voll und ganz zu verwirklichen“, dürfe den Künstler nichts an „Schöpfung und Tat“ hindern. Den Futuristen sind alle kulturellen Institutionen „Friedhöfe vergeblicher Anstrengungen“, „Kalvarienberge gekreuzigter Träume“, „Register gebrochenen Schwungs“. „Wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen, starken Fuuristen! So heißen sie „die lustigen Brandstifter“ willkommen. „Legt Feuer – ergreift die Spitzhacken, die Äxte und Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder“ (ebd. 35f). So verschleudern die Futuristen „tausend Schätze an Kraft, Liebe, Kühnheit, List und rauhem Willen“ mit dem „Schrei der Auflehnung“ und kehren im Gegensatz zum Angelus Novus dem Vergangenen den Rücken zu, alles Alte zu zertrümmern um der Zukunft willen. „Im Lande des dolce far niente heulen bereits unzählige Fabriken …. breiten völlig neue Ideen ihre Flügel zum Fluge aus.(37, Manifest der futuristischen Maler 1910).
Göttin Velocità
Autos, Sportwagen sind der Futuristen geflügelte Wesen, im motorischen Sturmbraus die Engel tanzen zu lassen. 1899 montierte Lord Montagu of Beaulieu einen Christopherus, den Schutzpatron der Reisenden, auf den Kühler seines Daimler. Zig anderen Figuren stahl ab 1905 eine Frau die Schau: als Spirit of Ecstasy, also Geist der Verzückung zierte eine 223 Gramm schwere Frontfrau den Kühler eines Rolls Royce. (vgl. Hans-Michel Neher/Florian Neher, Edle Kühlerfiguren. Eleganz und Design, Berlin 2014, 182ff). Wie Benjamin in seinem Angelus Novus eine Geliebte Angela Nova als Doppelgänger sah, so sei auch John Walter Edward Douglas-Scott-Motagu von seiner Geliebten, der Sekretärin Eleanor Thornton zur Emily genannten Silver Lady inspiriert worden. Französische Quellen behaupten, es sei die amerikanische Tänzerin Loie Fuller gewesen, an der Bildhauer Charles Robert Sykes seinen Entwurf orientierte. (vgl. Erwin Panofsky, Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Ffm 1999, 60ff) Ab 1911 jedenfalls ziert das engelhafte Flügelwesen den Rolls Royce. Zwischen der Silver Lady und dem Angelus Novus freilich legte der 1. Weltkrieg Europa in Trümmer.
Woran wollen wir uns 2021 halten? Wegen Corona mit dem Angelus Novus einer paradiesisch verklärten Normalität nostalgisch nachtrauern? Oder mit einem Sportwagen und dem Spirit of Ecstasy auf dem Kühler den Flow des Rasens ins Futur genießen? Es wird ohne Trümmer nicht abgehen. Aber was verheißt den messianischen Tikkun der Heilung der Kaputten? Es bleibt uns als schwaches Denken, dem pensiero debole von Gianni Vattimo nur der Pop: Angel came down from heaven yesterday … to rescue me, singt Jimi Hendrix in Angel, und ergänzt in When the wind cries Mary, a broom is drearily sweeping / up the broken pieces of yesterday’s life. Wer also heilt, was wir, der Fortschritt zertrümmern? Eine Neumarkter Berufsschulklasse jedenfalls hat den Angelus Novus in Eisen geschweißt – er schwebt in St. Egidien zu Nürnberg. Ob er uns helfen kann? Unsere Welt gilt als entzaubert. Himmlische Wesen gehören zum Märchenbestand. Und doch halten sich Schutzenegel wacker, und noch Augustin mahnt in seinem Tanzmanifest: Oh Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen. Ja, es wäre schon schön, himmlisch behütet, trotz aller Hightech-Armaturen, auf Erden begleitet zu sein. Walter Benjamins Freund Florens Christian Rang kennt unsere Antikensehnsucht und unseren Maschinenglauben (Horst Bredekamp), wenn er seiner Historischen Psychologie des Karnevals ein Motto voran stellt: Wir träumen Paradies und handeln Fabrik.
Autor: Dr. phil. Jochen Wagner
Angel
Angel came down from heaven yesterday
She stayed with me just long enough to rescue me
And she told me a story yesterday
About the sweet love between the moon and the deep blue sea
And then she spread her wings high over me
She said she’s gonna come back tomorrow
And I said, “Fly on my sweet angel
When the wind cries Mary
After all the jacks are in their boxes
And the clowns have all gone to bed
You can hear happiness staggering on down the street
Footprints dressed in red
And the wind whispers, “Mary”
A broom is drearily sweeping
Up the broken pieces of yesterday’s life
Somewhere, a queen is weeping
Somewhere, a king has no wife
And the wind, it cries, “Mary”
The traffic lights, they turn blue tomorrow
And shine their emptiness down on my bed
The tiny island sags downstream
‘Cause the life that lived is dead
And the wind screams, “Mary”
Will the wind ever remember
The names it has blown in the past?
And with this crutch, its old age and its wisdom
It whispers, “No, this will be the last”
And the wind cries, “Mary”
W. Jimi Hendrix
Bild: Paul Klee “Angelus Novus”, Ausschnitt (gemeinfrei)
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