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Ob sich die zwei Verliebten wiedersehen werden?

Vom 6. bis 16. November 2022 hat die Friedensdekade begonnen, ausgelobt vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Woran glauben? “Schwerter zu Pflugscharen?” (Micha 4,3)? Gott will keinen Krieg, doch wie soll aus Hass, Feindschaft, Vernichtung, Not und Tod wieder Zusammenhalt werden? Holen wir einen Moment Luft, sammeln wir Mut, lesen wir in der Zeitung, blicken wir ins Reale: “Gott, gib uns ein hörendes Herz” (Prediger Salomo).

“Auf Wiedersehen!” – Die Einberufung in den Krieg und die Angst auf Kommando
Es ist nur ein Bild auf der ersten Seite. Nur? Zwei junge Leute küssen sich, halten einander, weinen. Seinem Ring nach ist ihre Liebe was Ernstes. Sein Adidas-Kapuzzino und ihr Winterblouson sind Fashion wie bei uns, globales Outfit, Handy und Social Media inklusive. Zwei Kids, vom Land oder aus der Stadt, die Youngster könnten bei uns ums Eck sein. Wie meine Kinder. Schon hab‘ ich Tränen in den Augen. Putins Mobilmachung reißt alle aus Verliebtsein, Tagtraum, gewohntem Alltag. Flucht oder Front? Es zerreißt einen schier. Das Pärchen auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung vom Montag, 17. Oktober 2022, schreit Angst, Schmerz, Trauer, Wut, Ohnmacht, die ganze Perversion des Krieges aus jedem Pixel des gebannten Augenblicks heraus. Da hat der Fotoapparat “Stillgestanden!” befohlen und der Moment gelebter Nähe gehorcht im Klick zu erstarrter Unruhe. Ad hoc soll der Junge qua Uniform vom Zivilisten zum tötenden Menschen, zum homo necans (Walter Burkert) werden, Rekrutiert wird von Putins Berufsbarbaren jedes Maskulin, bar militärischer Kompetenz vom Adoleszenten bis zum Greis. Daheim bleiben die Frauen. Putins Gendern weist dem sogenannten schwachen Geschlecht die Kraft zum Schock, Weinen, Trauern, Einbalsamieren, Begraben, Klagen und Gedenken zu. Gnadenlos treibt die Mobilmachung das Leben durch den Häcksler aus leibhafter Beerdigung und himmlischer Ewigkeit. Mortificatio et Vivicatio verschreddern die Rekruten zu bloßem Kanonenfutter für den heiligen Krieg, so Erzbischof Kyrill. Den Putins sind die Analphabeten verordneten Hasses zu zimperlich: wieso in seinesgleichen nun einen Todfeind wittern?

Soldat Soldat in grauer Norm
Soldat Soldat in Uniform
Soldat Soldat, ihr seid so viel
Soldat Soldat, das ist kein Spiel
Soldat Soldat, ich finde nicht
Soldat Soldat, dein Angesicht
Soldaten sehn sich alle gleich
Lebendig und als Leich (…)

Russische Orthodoxie und militärisches Hightech
Wo Wolf Biermanns Poesie den todeshungrigen Schergen die sadistischen Fratzen von ihren Visagen reißt, zelebrieren Putin, Lawrow und Tschetschenienkriegssveterane ihre postsakrale Liturgie des opfertrunkenen Mordsrausches. Warum machen sie, was sie tun? Welcher Macht dienen sie? Ich töte, also bin ich? Als wenn Lenin, Stalin, Hitler, Mussolini, Mao ihre Vorbilder oder das Sternbild Orion ihr Leitstern vom Himmlischen Jäger (Roberto Calasso) wären. Es fällt von keiner Dialektik, Metaebene oder absolutem Denken ein Licht auf den bestialischen Despoten. Aus den meta- oder nachmetaphysischen Krümeln theologisch-neomarxistisch-triebstruktural-gesellschaftlicher-psychoanalytisch-archaischer Theoriefragmente leuchtet nix sinnerhellendes in jenes helle Schwarz, das Putins Theater Agon an tödlichen Eskalationsstufen gebiert. Droht absehbar ein Flächenbrand? Daheim fürchten die wartenden Frauen, ihre Lieben kommen bald tot nach Hause. Anders die alten Kempen des euroasiatisch-kaukasischen Pulverkreises aus Kasachstan, Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Afghanistan, Krim oder auch Syrien. Ihnen dauert der Nachschub zu lange. Morden duldet keinen Aufschub. Doch woher kommen Inbrunst und Kälte als Stimuli? Verschiedentlich wird der russischen Seele eine Melange aus zaristrischem Reich, totalitärer Staatsdienerschaft, deutschem Idealismus, Opfer wütiger Oktoberrevolution, gleichviel aber wodkagestützte Melancholie nebst dostowjewskischem (Nie)-Erlösungsglauben und spirituell erhöhtem Volk als Kollektivkörper zugestanden. Putins Nationalfaschismus bündelt Muttererde, Schicksalsglaube, Selbstbeweihräucherung und Minderwertigkeitskomplex, feudale Opulenz und bigotten Protz als auch eine Sozialisation durch den KGB, früher die Tscheka, zusammen. “Warten Sie ab, bis Putin die Macht verliert.” meint der US-Politologe Francis Fukuyama (Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 2022). Und dann?

Vom Bösen
Da darf die atomare Drohung nicht fehlen. Doch schlummert unter der Oberfläche totaler Zerstörung nicht eine zum Dynamit verdichtete narzisstische Wut, deren Lunte ein bisschen Glut kaum erwarten kann? Verschiedentlich zitiere Putin, so Konrad Schuller, Der Philosoph der Diktatur (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. Oktober 22), den Religionsphilosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883 – 1954). Der russische Philosoph, Schriftsteller und Publizist war ein Gegner der Bolschewiki, Anhänger der Weißen Armee, konservativer Monarchist, sowie slawophiler Faschist. Verschmelzung des Individuums mit dem Mutterland, die gesunden Kräfte des Volkes zur nationalen Begeisterung im Augenblick der Gefahr, Patriotismus und Vormundschaftsdiktatur als ideale Staatsform, die Heilung Gottes durch den totalitären Staat – es fehlt kein Größenwahn. In der Konsequenz seien Hitler und Mussolini demnach Retter Europas.

Flucht, Trost, Revolte?
Indes zahlt zuerst die Jugend den Blutzoll für eine kalte Brutalität, mit der im Namen einer höheren Humanität eine maximale Inhumanität zwischen zwei Bruder- respektive Schwesternvölkern massenweise Opfer für eine bessere Zukunft bringen muss. Namentlich in Dostowjewskis Brüdern Karamasow erzählt der atheistische Iwan dem frommen Aljoscha die Legende vom Großinquisitor. Wie dem Blick in die Gesichter des Bösen standzuhalten ist, beschreibt Helmut Lethen in seinem neuen Buch Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen, Berlin 2022). Putin und den Seinen ist Brüssels EU der Inbegriff der antichristlichen Dekadenz. Da die Menschen von Vernunft, Freiheit und Vielfalt überfordert und daher der Führung durch die Macht der Kirche bedürftig seien, wirke der Einfluss der Kirche durch Wunder, Geheimnis und Autorität. Die Attraktivität des Bösen nun verdanke sich wiederum einem Opfer: Das Sacrificio trifft das Ethos und lehrt mit dessen Abschaffung den Erfolgsweg einer Haltung, deren methodischer Nihilismus nicht Schuld, noch Scham, Erbarmen, Reue, Gewissen oder Recht kennt. Die gnadenlose Skrupellosigkeit verbinde denn, so Helmut Lethen, die neue Rechte mit Putin, insofern sie einen weiteren Referenzautor als gemeinsame Autorität bezeugen: Wladimir Solowjows Kurze Erzählung vom Antichrist war neun Jahre nach Dostowjewskis Tod ein Pamphlet wider die westliche antichristliche Zivilisation. Der Andere sei meine Frage in Gestalt, so schon Carl Schmitt. Geht es mir besser, bin ich ‚mehr Ich‘ wenn der Andere nicht mehr, sondern nur mehr Leere ist? Der Wunsch zur bloßen Vernichtung des Anderen klafft als Sinnvakuum in allen Deutungversuchen des Krieges. Lässt Putin einfach so umbringen? “Es ist, sagt eine Mutter, als bewerfe Russland den Feind mit Leichen”, schreibt die Journalistin Silke Bigalke in Alles ist besser als der Tod. (Süddeutsche Zeitung, 17. Oktober 2022). Putin sei zudem perfide genug, das ursprünglich zivile und friedliche Motto “Wir zusammen” für die Annexion zu verwenden: “Ich habe gar keine Hoffnung mehr auf das russische Volk”, wird eine kremlkritische Frau in dem gleichen Text zitiert.

Mit Kreide Tauben auf die Straße malen – und dann ist Friede?
Jedenfalls erzeugt die Mobilmachung außer Angst und Schrecken bereits die ersten Gefallenen. Fliehe wer kann vor den Einberufungsbehörden, deren Willkür Hunderttausende vom Tagtraum in den Tod reißt. Ohne es hier entfalten zu können, haben wir hierzulande eine andere Jugend erlebt. Neben der Schule waren wir überwiegend mit unseren Hobbys beschäftigt: Fußball, Moped, Gitarre und Band. Die Begegnung mit dem Phänomen Krieg erschöpfte sich in Erzählungen von Eltern und Großeltern und führte nach der Musterung zur Kriegsdienstverweigerung. Zurück zum eingangs genannten Bild: Ob sich die zwei Verliebten wiedersehen werden? In Flucht statt Front berichtet Frank Nienhuysen von einer geglückten Flucht nach Berlin (Süddeutsche Zeitung, 22./23. Oktober 2022). Im Radio läuft von den Doors der Kultsong Riders on the storm von 1971!

(…)
There’s a killer on the road
His brain is squirmin’ like a toad
Take a long holiday
Let your children play
If you give this man a ride
Sweet family will die
Killer on the road, yeah (…)

Riders on the storm & Killers on the road?
Der 1971 komponierte Song beschreibt schier existenzialistisch das moderne Leben als zufälliges Geworfensein in ein Dasein voller Killern und ohne Sicherheit oder Gewissheit. Church and Piece vom Ökumenischen Rat der Kirchen votiert weiterhin für gewaltfreie Widerstandsformen wie zivilen Ungehorsam. Aber “wir müssen den Balken im eigenen Auge sehen und damit unseren Anteil an und unsere Verantwortung für diese Krisen übernehmen.” so Antje Heider-Rottwilm, Vorsitzende von Church and Peace. Statt in mehr Rüstung muss mehr in Friedensforschung investiert werden, Jedenfalls gibt es im Krieg keine Gewinner. Aber gibt es noch eine Friedensethik, wenn das Völkerrecht gebrochen wird? So appellierte Papst Franziskus am 2. Oktober an die Präsidenten Putin und Selenskyj sowie an die Weltgemeinschaft: “Wir sollten die Waffen ruhen lassen und die Bedingungen für Verhandlungen suchen, die zu Lösungen führen, die nicht mit Gewalt durchgesetzt werden, sondern einvernehmlich, gerecht und stabil sind.” Make love, not war. Gott schütze die Liebenden.

 

Dr. phil. Jochen Wagner

 

Bild: Ein Abschied, der nachdenklich stimmt: Titelseite der “Süddeutschen Zeitung” vom 17.10.2022 (Foto: dgr/eat archiv).

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