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Gefühle für Gleichwertigkeit

Heimat ist eine Herzenssache. Deshalb ist die Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse auch eine Aufgabe emotionaler Intelligenz. Von der Landjugend lässt sich lernen, wie das geht, findet der Sozial- und Heimatpädagoge Manfred Walter.

 

Von Manfred Walter

Meine Oma war Schlesierin. Wenn mein Vater am ersten Freitagabend im Monat seine Aktentasche packte, die Jacke vom Haken nahm, den Hut aufsetzte und das Haus verlassen wollte, stand sie gerne im Flur und fragte: “Giehste widdä zemm Oobstboome?” Mein Vater war Schriftführer in der Vorstandschaft des Obst- und Gartenbauvereins. Im Schlesischen gibt es keinen Begriff für ehrenamtliches Engagement.

Vom 4. bis 5. Juni geht eine Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing der Illusion von Gleichwertigkeit von Stadt und Land nach. Zurecht stehen strukturpolitische Themen und erfolgreiche Praxisbeispiele auf der Tagesordnung. Doch es geht um mehr. Heimat ist eine emotionale Sache. Gerechtigkeit ist auch ein Gefühl. Gleichwertigkeit entsteht aus der Melange von Wertschätzung und Gerechtigkeit. Wer die Gleichwertigkeit von Stadt und Land voranbringen will, muss der Seele der Menschen genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie strukturellen Ausgleichsmaßnahmen, muss Räume schaffen, in denen das subjektive Gefühl von Heimat wachsen kann. Wie das gelingen kann, möchte ich Ihnen hier schildern.

Heimat entsteht nur im Gefühl von Gleichwertigkeit

“Heimat” hat seinen Ursprung im Althochdeutschen und bezeichnete im frühen Mittelalter die Sehnsucht nach dem Himmelreich. Ab dem 12. Jahrhundert wurde “heimôte/heimôti” diesseitig und beschrieb die konkrete Umwelt der Menschen, ihr Heim, die Familie, das Vertrauen, aber auch die Entbehrungen des täglichen Überlebenskampfes. Die Romantik emotionalisierte das Wort und verband es mit idyllischen Landschaftsbildern. Als Gegenwelt zur Industrialisierung inspirierte der Heimatgedanke den Bau von Arbeitersiedlungen. Die Verknüpfung mit “Vaterland” und “Nation” im 20. Jahrhundert gipfelte in der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. In den 1950er und 1960er Jahren liefen “Heimatfilme” in den Kinos, “Heimatvertriebene” kamen in Dörfer und Städte. Heute prägen Bands den “Heimatsound”, Tatortkommissare ermitteln mit Regionalkolorit. Das Wort “Heimat” ist in der deutschen Sprache so wichtig, dass es zum Grundwortschatz des Goethe-Zertifikats B1 gehört.

Wie ist es um Ihr Heimatgefühl bestellt? Haben Sie, werte Leserinnen und Leser, Lust auf ein Gedankenexperiment? Nehmen wir an, Sie befinden sich in der Fremde, ein gutes Stückweit entfernt von zuhause. Sie geraten in einen Smalltalk, werden gefragt: “Wo kommen Sie her?” Was antworten Sie? Aus München? Nicht aus Bogenhausen oder Unterhaching? Aus Nürnberg? Nicht aus Hersbruck oder Ottensoos? Aus Bayern? Nicht aus Schwaben oder dem Ries? Möglicherweise vermuten Sie fürsorglich mangelndes fehlendes geographisches Detailwissen bei ihrem Gegenüber und verhalten sich rücksichtsvoll, wollen ihn nicht in die Bredouille bringen, wenn er Ihren kleinen Heimatort nicht lokalisieren kann. Das ist freundlich von Ihnen. Mit dem Ortsnamen, den Sie nennen, verraten Sie jedoch auch etwas über ihre Identität.

Ich bin überzeugt: Wer Gleichwertigkeit voranbringen will, tut gut daran, sich den Begriff der Identität näher anzuschauen. Für den Münchner Sozialpsychologen Prof. Dr. Heiner Keupp steht hinter dahinter eine einfache wie komplexe Frage:

“Wer bin ich in einer sozialen Welt, deren Grundriss sich unter Bedingungen der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung verändert?”

Tatsächlich ist unsere Welt komplex. Versuchen Sie mal zu beschreiben, wer Sie sind. Sobald Sie Worte dafür gefunden haben, werden Sie nicht mehr fertig mit Erklären. In Resonanz mit den Menschen ihrer Umgebung, Ihrer Familie, Arbeitskollegen, Freunden, ihrem Umfeld und wer auch immer Ihnen wichtig ist, entsteht ein Bild von unzähligen Eigenschaften. Sie selbst integrieren diese Bilder in ihre eigenen Vorstellungen, Ideen und biografischen Erfahrungen von und mit sich selbst zu einem bunten Teppich aus vielen Fäden. “Patchwork der Identitäten” nennt Professor Keupp dieses wunderbar vielschichtige Gewebe.

Heimat als Patchwork-Faden der Identität

Wir waren auf der Suche nach dem guten Gefühl der Gleichwertigkeit jenseits strukturpolitischer Maßnahmen. Hier ist die Frage interessant, inwieweit der Raum, in dem ein Mensch lebt, zur Identitätsbildung beiträgt und unter welchen Bedingungen? Ein Bild von sich selbst zu konstruieren ist ein höchst komplexer Prozess: Dynamisch und interaktiv zwischen Bewusstsein und den Tiefen der Persönlichkeit. Unstrittig ist der Einfluss des sozialen Umfelds und seiner Kultur. Um im Patchwork-Bild von Heiner Keupp zu bleiben: Ist der Sozialraum ein Faden der Identität und wenn ja, wie wird er gefärbt?

Ute Clausner ist Trainerin und Beraterin in der Akademie für Ehrenamtlichkeit in Berlin. Für mehr Engagement in ländlichen Räumen, insbesondere bei jungen Menschen, fordert sie besondere Lernräume. “Möglichkeiten, sich einzubringen, mitzugestalten und ganz besonders: auch Fehler machen zu dürfen”. Engagement ist ein guter Indikator. Wo Menschen freiwillig Zeit investieren, bringen sie zum Ausdruck, was ihnen wertvoll ist. Freiwilliges Engagement ist gelebte Gleichwertigkeit. Lernräume für Engagement werden somit zu Lernräumen für Gleichwertigkeit.

Jugendverbände wie die Evangelische Landjugend sind für Ute Clausner ein spannendes Konstrukt, “weil Jugendliche selbst die Vorstände ihrer Vereine sind”. Jugendverbandsarbeit hat in Paragraf 12 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes SGB VIII ihre rechtliche Grundlage. Die Entwicklung junger Menschen zu “eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten” ist Ziel und staatlicher Auftrag.

Wie entsteht Heimat? Fragen wir die Jugend selbst!

So entsteht Identität. Aber wie wird sie regional? Wie können die von Ute Clausner geforderten Lernräume so gestaltet werden, dass Heimat in ihnen entsteht? Fragen wir die Jugend selbst. Eine Reihe von Studien belegt, dass junge Menschen mit dem Leben auf dem Land im Großen und Ganzen recht zufrieden sind. Maria Stöckl und Theresa Schäfer von der Katholischen Landjugend in Bayern haben zusammen mit Prof. Dr. Joachim Vossen vom Münchner Institut für Stadt- und Regionalmanagement (ISR) einen Punkt herausgefunden, mit dem die Jugend unzufrieden ist: Die Partizipation. “Man könnte etwas verändern, wenn die jungen Menschen mehr gefragt würden” – diese Aussage fand hohe Zustimmung unter den über 600 befragten Landjugendlichen.

Wenn freiwilliges Engagement gelebte Gleichwertigkeit ist, wäre der erste Schritt nicht Jugendliche nach ihrer Meinung zu fragen? Ja, Partizipation hat auch eine strukturpolitische Komponente. Schon lange fordern die Landjugendverbände Jugendbeteiligung in den Richtlinien ländlicher Entwicklung zu verankern. Weil jedoch Heimat als Beziehung zwischen Mensch und Raum emotional verankert ist, reichen Gesetzestexte allein nicht aus. Beziehungen müssen und können entwickelt werden. Die Lernräume dafür müssen klug geplant sein, denn sie sind, wie der Theologe Matthias Sellmann zurecht sagt, nur Hilfsmittel. Hilfsmittel für etwas Größeres: Das Leben.

Als mein Vater von der Sitzung des Obst- und Gartenbauvereins nach Hause kam, war die Oma schon im Bett. Gerne setzte er sich im Dunkeln auf die Bank hinter dem Haus, zündete sich eine Stuyvesant-Zigarette an und blickte über seine Gartenbeete. In Schlesien wäre es ein Bauernhof gewesen. Gleichwertigkeit? Mein Vater war nicht unzufrieden. “Doheeme is doheeme”, pflegte er nach getaner Arbeit zu sagen. Der “Oobstboom”-Verein hat sicherlich zu diesem Gefühl beigetragen.

 

Der Autor ist Dipl. Sozialpädagoge (FH), Heimatpädagoge und Landessekretär der Evangelischen Landjugend in Bayern.

 

 

Hinweis:

“Gleichwertigkeit in Stadt und Land – eine Illusion?” heißt die Online-Tagung vom 4. bis 5. Juni 2021, auf der Manfred Walter neben weiteren Referierenden unser Gast sein wird. Informationen zu Programm und Anmeldemodalitäten können Sie unter diesem Link abrufen.


Der Beitrag ist zugleich Gastkolumne im Juni-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Er erscheint am 31. Mai 2021. Mehr dazu hier.

 

 

Weitere Informationen

Was Vereine und andere Organisationen tun können, um Engagement in ihren Reihen zu fördern, zeigt Ute Clausner im Projekt „VOLSICO“ der Akademie für Ehrenamtlichkeit. Der Autor ist Mitglied im Fachbeirat. Mehr unter diesem Link https://www.volisco.de/

Studie: Stadt. Land. Wo? Was die Jugend treibt. (Kath. Landjugendbewegung) https://www.kljb-bayern.de/themen/stadt-land-wo/

 

Bild: Manfred Walter (Foto: Caroline Pühl)

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