„Wie lange wird das noch dauern?“ ist die Frage, die immer lauter gestellt wird. Sie meint auch: Wie könnten Exitstrategien aus der momentanen Situation aussehen? Und welche Freiheiten gehen zulasten der Unfreiheiten anderer? Studienleiter Frank Kittelberger ist überzeugt: Freiheit muss sich an Solidarität messen lassen.
Ich gebe zu: Ich klatsche auch. Jeden Abend um 21:00 Uhr öffnen wir unser Fenster in der neuen Straße, in die wir gerade gezogen sind. Pünktlich öffnen sich auch andere Fenster. Man ruft kurz „Hallo“ und vergewissert sich, dass alle da sind. Dann wird 30 Sekunden lang geklatscht. Meine Frau und ich waren nicht von Anfang an dabei, vermuten aber, dass es den Pflegekräften im nahen Klinikum gilt. Nach zwei Minuten ist es vorbei. Alle rufen „Gute Nacht!“ und „Bis morgen!“ und die Fenster schließen sich. Wir haben uns daran gewöhnt und unterbrechen sogar die übliche Sendung zu Corona, die auf vielen Sendern läuft. Ich gebe also zu: Ich klatsche auch. Wird das so bleiben?
Seltsame Unrast: Nach nur einer Woche verschärfter Ausgangsbestimmungen fragten viele schon lautstark: „Wie lange wird das noch dauern?“ Ich frage: Ist unser Geduldsfaden derart dünn? Und was droht, wenn er reißt? Wir erleben eine seltsam gebrochene Ungleichzeitigkeit: Mitten in den Ausgangsbegrenzungen verhaftet und uns darin einrichtend, starren wir permanent auf das „Danach“. In diesen Tagen von Enge und Krise offenbaren sich dabei ganz unterschiedliche Charakterzüge und Typen: Der Misanthrop traut keinem und der Menschenfreund scheint unbetrübt, der eher depressiv gestimmte Mitmensch erschrickt vor den lautstark erregten Zeitgenossen. Die einen neigen zur utopischen Hoffnung, die anderen zum Horrorszenario einer Dystopie. Manche sind einfach nur geduldig und andere stets ungeduldig. Der eine ist gläubig und die andere ungläubig – alle aber brauchen Hoffnung. So mahnt der Deutsche Ethikrat am Anfang der Karwoche, den Bürgern zuzugestehen, über Ausstiegsszenarien nachzudenken. Jetzt mag noch nicht die Zeit für solche Schritte sein. Aber Überlegungen zu möglichen Schritten eines Exit seien legitim, wenn den Menschen nicht jegliche Hoffnung genommen werden soll.
Dazu braucht es Selbstreflexion. Wir müssen einüben, uns über uns selbst klar zu werden! Was lese ich mit Wohlwollen und wo schalte ich schnell ab? Was ist meine Filterblase? Wem vertraue ich und warum? Schwierige Fragen, die eines Momentes des Innehaltens bedürfen. Haben wir dies genügend geübt? Zur (Selbst-)Erkenntnis gehört dann auch das Eingeständnis, dass es beim Thema „Gesundheit“ um mehr geht, als nur um menschliche Körper und ihre Funktionen.
Es ist eine wilde Zeit
Ende März klagte eine Berliner Krankenschwester: „Euren Applaus könnt ihr euch sonstwohin stecken!“ Sie mahnt uns, dass es nicht genügen kann, jetzt am Fenster zu klatschen. Momentan mag dies wichtig sein. Aber als Placebo für eine reale Therapie am Gesundheitswesen genügt das nicht! Wir werden uns nach der Krise hoffentlich daran erinnern, dass wir die Gewichte in unserem Gesundheitswesen seit Jahrzehnten einseitig und wahrscheinlich auch falsch verteilt haben. Bei aller Wertschätzung für pharmakologische Erkenntnisse und wundersame Apparate sind es immer noch Menschen, die anderen Menschen beistehen. Dies darf und wird uns etwas kosten! Hoffentlich vergessen wir das nicht. Heute noch schwanken wir zwischen selbst gebastelten Atemmasken und der Jagd nach einer Rolle Klopapier. Ganz nebenbei nehmen wir wahr, dass auch in Zeiten der Krise große Abrechnungsbetrügereien nicht einfach aufhören. Es ist eine wilde Zeit.
Mit dem Pflege-Thema befasste sich auch die „Hart aber fair“- Folge am 6. April, Titel: „Das Virus und die Pflege: Werden Altenheime zur Corona-Falle?“. In Erinnerung bleibt mir die bang gestellte Frage, ob man angesichts der aufkeimenden Tragödie „jetzt die Oma nach Hause holen“ müsse. Das ist wohl keine gute Lösung. Es lenkt aber den Blick auf die Angst der Angehörigen. 200.000-300.000 Menschen arbeiten in der Pflege zu Hause – manche mit und manche ohne ambulanten Pflegedienst. Diese Gruppen lebt im Schatten aufgeregter Videoclips aus deutschen Intensivstationen.
Ich finde, der jetzt viel geäußerte Mangelvorwurf an die Politik ist nicht fair! Niemand konnte sich diese Krise ausmalen. Hätten wir Milliarden von Gesichtsmasken gehortet, wäre der Rechnungshof eingeschritten. Doch zu Recht diskutieren wir mögliche Fehleinstellungen. So publiziert die ZEIT ihre Ausgabe Nr. 15 unter dem Thema „Wer schützt die Schwachen?“
Die Ausgrenzung (Segregation) gefährdeter Gruppen als Krisenmaßnahme wird schamlos gefordert. Im Radiobeitrag eines Morgenmagazins plädiert Bundesinnenminister Horst Seehofer dafür, durch verstärktes Testen die infizierten Menschen zu identifizieren und dann abzusondern, damit der Rest der Bevölkerung wieder normal leben kann. Das erinnert mich an die Zeit um 1986/87 Jahre, als der damalige Staatssekretär im bayerischen Innenministerium Peter Gauweiler nicht abgeneigt war, einen Vorschlag des Mediziners Michael Koch aus Schweden bei uns zu realisieren: aidsinfizierte Menschen sollten abgesondert und auf Inseln untergebracht werden. Gott sei Dank hat sich unsere Gesellschaft damals nicht für diesen Weg entschieden, sondern ist durch Forschung, Sorgekultur und Aufklärung sowie eine gehörige Portion an Mitleid die AIDS-Krise anders angegangen. Dies hatte übrigens auch mittelfristig Auswirkungen auf unsere Beurteilung von „Risikogruppen“. Wer damals „positiv“ war, konnte also mittelfristig mit positiven Konsequenzen statt mit Abwehr rechnen. Wir haben diese Krise relativ gut gemeistert.
Die Krise wird zu einer Solidaritätsprobe
Und heute? In den Heimen richtet das Virus nachweislich den größten Schaden an. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt in einem Interview mit der ZEIT: „Wir werden die Älteren über mehrere Monate bitten müssen, im Zweifel zuhause zu bleiben.“ Auch Helge Braun, Chef des Bundeskanzleramts, stimmt dem zu: Ältere Menschen müssten isoliert werden. Der Altersmediziner und Psychiater Johannes Pantel hält diesen Vorschlag für „geradezu absurd“. Laut Pantel seien die Nachteile einer Isolation erheblich. Das Immunsystem werde geschwächt, die Infektionsgefahr erhöht. Dazu käme Verzweiflung bis hin zur Suizidgefahr. Ihm bleibe bei solchen Aussagen „die Spucke weg“. Auch der Infektiologe Gerd Fätkenheuer lehnt eine Lockerung der Maßnahmen nur für jüngere Menschen ab. In der oben genannten Sendung sagte er, ein solches Vorgehen würde nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Infektiologie bei unter 60-Jährigen zu hunderttausend Toten in Deutschland führen. Er fügte hinzu: „Das kann keine gute Strategie sein.“
Eine Million Menschen leben in Heimen und daran werden wir nichts ändern. Doch gelten deshalb alle alten Menschen über 65 generell als gefährliche Gruppe? Das wären in Deutschland ca. 18 Millionen, von denen aber nur maximal 20 Prozent pflegebedürftig sind (überwiegend zu Hause betreut). – Alle gefährlich? Junge Menschen behaupten, sie seien in Vorleistung getreten und deshalb jetzt auch vorranging an der Reihe. Aber wer ist denn wirklich in Vorleistung getreten? Doch wohl jede Generation auf ihre Weise! Hier schleicht sich ein ganz anderes Virus ein: Alt gegen Jung – oder auch Jung gegen Alt.
Die Krise wird zu einer Solidaritätsprobe und das Gesundheitssystem hat Fieber! Schon werden Stimmen laut, Heime zu verstaatlichen. Uns fehlen dabei wichtige Daten: Erst zögerlich werden die Sterbeorte in Deutschland statistisch erfasst. Eine seltsame Scheu lag lange über diesem Thema. Die Verlegungen Sterbender aus dem Krankenhaus ins Pflegeheim sind ein beklagter Umstand. Menschen aus Heimen kommen nicht mehr wie früher zum Sterben ins Krankenhaus, sondern werden umgekehrt seit gut 15 Jahren verstärkt zum Sterben in Heime verlegt. Dies stresst die Heime immens. Vieles im Gesundheitswesen gehört jetzt auf den Prüfstand.
Doch mein Blick richtet sich darüber noch hinaus: Ansteckungsgefahr droht auch im übertragenen Sinn! Natürlich sind etwa auch Experten fehlbar und oft uneinig. Da raten Virologen lange von Masken ab oder verweisen auf ihre sehr eingeschränkte Wirkung. Kommentatorinnen sind häufig vehement dafür. Unserer Ungeduld wächst und die Nerven werden dünner.
Exitstrategien und Freiheitsbegriff
In einem Interview mit der FAS musste sich Lothar Wieler (Präsident des Robert Koch-Instituts) gegen Kritik verteidigen, sein Institut habe die Coronavirus-Pandemie nicht ernstgenommen. Darauf angesprochen, dass das RKI noch im Januar gesagt habe, vom Virus gehe keine ernste Gefahr für Deutschland aus, sagte er: „Wir haben die Bevölkerung stets nach dem aktuellen Stand unseres Wissens unterrichtet.“ Er und sein Institut bekämen nun Drohungen wegen des Umgangs mit der Coronakrise: „Auf der einen Seite gibt es Drohungen, weil ich angeblich Hysterie vor einer eingebildeten Krankheit schüre. Auf der anderen Seite wird verlangt, wir sollen endlich alle Erkrankten ‚wegsperren‘, damit sie nie mehr jemanden anstecken.“ Er werde sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen lassen: „Wir müssen nüchtern unsere Arbeit tun, auf wissenschaftlicher Basis. Das ist unser Auftrag.“
Und danach? Für Menschen, die eine Corona-Ansteckung überwunden haben, soll nach Auffassung der Bundesärztekammer die Kontaktsperre gelockert werden. Dafür wäre es gut, möglichst viele Bundesbürger auf Antikörper zu testen. „Alle, die immun sind, weil sie die Infektion schon hinter sich haben, könnten dann wieder zur Arbeit gehen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen”, so Ärztekammerpräsident Klaus Reinhardt in der FAZ Ende März. „Diese Menschen wären die ersten, die ins Normalleben entlassen werden könnten. Der große Vorteil ist ja: Sie sind weder gefährdet noch gefährden sie andere.” Radikaler formuliert es mancher in der Politik. So fragte FDP-Chef Christian Lindner neulich im Parlament: „Wann bekommen wir unsere Freiheit zurück?“
Doch Freiheit muss sich an Solidarität messen lassen! Nach einer Konferenz der europäischen Regierungschefs wurde kürzlich deutlich, dass alle für Zentrallager gestimmt haben, in denen jetzt dringend benötigtes medizinisches Material konzentriert wird. Klar: Zentralisierung führt immer auch zu Machtkonzentration. Gleichzeitig können sich die Staaten nicht auf „Eurobonds“ einigen, um den besonders betroffenen Ländern finanziell zu helfen. Jeder ist sich selbst der nächste.
Was also hinterlassen wir der Zukunft, um mit solchen Situationen fertig zu werden?
Anfang April sitzt eine Frau völlig allein und lesend auf einer Bank in einem leeren Park in München. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ein Polizist kommt auf sie zu und gibt ihr einen Strafzettel. Dort zu sitzen und zu lesen „sei kein triftiger Grund, die Wohnung zu verlassen“. Sogar Bayerns Innenminister Herrmann nannte das später einen „Blödsinn“ und verwies darauf, dass die Polizei besser instruiert werden müsse.
Zeitgleich warnen der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier und die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vor der Erosion des Rechtsstaats und der „Opferung“ von Freiheitsrechten. Dem widerspricht Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretzschmar umgehend: Die Freiheitsrechte würden nicht „geopfert“, sondern nur in der Krise eingeschränkt. Man könnte sicher sein, dass sie „total wiederhergestellt“ werden. Hier stutze ich: „Freiheitsrechte“ und „total“ sind für mich zwei Worte, die nicht gemeinsam in einen Satz passen.
Was also kommt danach? In einem Interview mit dem SPIEGEL Ende März meint der Soziologe Armin Nassehi: Nach der Krise werde vieles in der Gesellschaft sein wie vorher. Der Mensch sei nur deshalb in der Krise zu anderen Gedanken und Handlungen fähig, weil er weiß, dass sie zu Ende geht. Wir werden uns nicht ändern und sind nur im Krisenmodus für eine bestimmte Zeit anpassungsfähig.
Die Kraft, wieder aufzustehen
Vielleicht irrt er sich ja. Doch ich werde nachdenklich. Es gibt bei allen Medikamenten die Frage der Nebenwirkungen. Für eine bestimmte Zeit sind diese in Kauf zu nehmen. Alles hängt von der Diagnose ab! Aber was wird hier diagnostiziert? Infektionen? Zu viele individuelle Freiheiten? Mangel an politischen Instrumenten des „Durchregierens“? Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen?
Vielleicht müssen wir den Begriff „Virenschutz“ umfassender denken:
– biologisch und medizinisch angesichts unserer realen analogen Begegnungen,
– computertechnisch in Zeiten gehäufter digitalen Kommunikation,
– psychosozial angesichts der Nebenwirkungen des Lockdown
– und politisch in Zeiten sich einschleichender Restriktionen.
In amerikanischen Krankenhäusern, wo ich einige Jahre gearbeitet habe, las ich in den Akten verstorbener Patienten oft das Wort „Exit“. So verstehen wir die Debatte um einen Exit aus den Einschränkungen gegenwärtig natürlich nicht! Mich jedoch mahnt dieser doppelte Bedeutungshorizont, wenn wir jetzt über nächste Schritte sprechen. Dann fällt mir ein Satz des antiken griechischen Dichters Äsop ein: „Was auch immer du tust, tu es umsichtig und bedenke die Folgen!“
Handeln wir also mutig und bedacht zugleich! Dazu mag uns die Stärkung unserer Resilienz verhelfen. Sie kann eine hilfreiche Eigenschaft zu sein. Resilienz ist etwas anderes als Resistenz: Mit Resistenz ist die Widerstandskraft gemeint, die uns davor bewahrt, von einem Ereignis ernsthaft betroffen zu werden. Es ist die Widerstandskraft, die wir zum Beispiel mit der biologischen Immunität meinen, die uns davor schützt, uns (erneut) anzustecken. Widerstandskraft ist wichtig.
Resilienz meint aber etwas anderes: Es geht um die Kraft und Fähigkeit wieder aufzustehen, nachdem man von einem Ereignis betroffen ist. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die Eigenschaft einer Stahlfeder, sich auch nach dem Verbiegen sofort wieder aufzurichten. Darum geht es! Manch einer wird in diesen Tagen von Krankheit, Leid und Sorgen niedergedrückt; er oder sie ist wirklich betroffen. Jetzt weiterzumachen, neue Kraft zu schöpfen, sich buchstäblich und im übertragenen Sinn wieder aufzurichten, dass ist gefragt. Resilienz ist genau dort nötig, wo die Resistenz nicht genügt hat.
Ich halte mich in diesen Tagen an das mutmachende Wort des Apostels Paulus: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Tim 1,7). Für mich sind solche Erinnerungen an uns Zugesagtes wie Bausteine heilsamer Resilienz.
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Bild: Frank Kittelberger (Foto: ma/eat archiv)
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