Judith Kiss von der Jenaer Forschungsgruppe “flumen” sieht einen Riss zwischen gegensätzlichen gesellschaftlichen Erfahrungswelten. Sie fragt: Gelingt die sozial-ökologische Transformation angesichts gesellschaftlicher Mentalitäts- und Interessensunterschiede?
Von Judith Kiss
Angriffe auf (grüne) Politiker:innen, Bauernproteste, Demonstrationen für Demokratie, Erstarken der AfD, Energie- und Haushaltskrise, sich Kriegstüchtigkeit zuwendende Sicherheitspolitik – uns wird immer deutlicher vor Augen geführt, dass wir in Zeiten des Umbruchs leben. Vor Corona, also zu den Hochzeiten der Klimabewegung, überwog der Eindruck, ein Umbruch könnte eine sozial-ökologische Transformation hin zu einer klimafreundlichen und sozial gerechteren Zukunft bedeuten. Heute ist der Wandel mit großen Unsicherheiten verbunden: Wen werden die Umbrüche besonders treffen? Wird Wandel im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation überhaupt noch möglich sein?
Die Forschungsgruppe “Mentalitäten im Fluss (flumen)” an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena liefert soziologische Erklärungen für die gesellschaftliche Konflikthaftigkeit und Möglichkeiten des (Nicht-)Gelingens einer sozial-ökologischen Transformation. In einer deutschlandweiten Umfrage hat sie 4.000 Menschen zu ihren Mentalitäten, also ihren Einstellungen, Sichtweisen und Gefühlslagen bezüglich gesellschaftlich-ökologischem Wandel sowie zu ihren Alltagsgewohnheiten und sozio-ökonomischer Situation befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Einstellungen der Menschen in den Fragen, ob, wie schnell und in welcher Form eine sozial-ökologische Transformation notwendig sei, teils eklatant auseinandergehen – und dass diese Meinungen tendenziell mit den sozialen Lagen der Menschen und den damit verbundenen Interessen zusammenhängen. Dies deutet flumen als einen sozial-ökologischen Klassenkonflikt. Anhand zweier Konfliktdimensionen können korrespondierende Mentalitäts- und Klassengegensätze beispielhaft veranschaulicht werden.
Dimensionen des sozial-ökologischen Klassenkonfliktes
Der ‘Abstraktionskonflikt’ besteht zwischen Menschen in niedrigen sozialen Lagen und besser situierten Bevölkerungsteilen und dreht sich um den Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht, Freiheit und Abhängigkeit. Aus sozial-ökologischer Sicht besteht zunächst ein Verteilungskonflikt: Reichere verursachen durchschnittlich mehr Umweltschäden, sind weniger betroffen von ihnen und können sich Klimaschutz eher leisten. Dieser Klassengegensatz wird zwar von vielen als ungerecht wahrgenommen, daraus resultieren aber kaum Forderungen nach Umverteilung. Vielmehr schiebt sich hier ein besorgniserregender mentaler Oben-Unten-Gegensatz in den Vordergrund: Menschen in unteren Lagen neigen dazu, den eigenen gesellschaftlichen Beitrag als zwecklos zu bewerten. Sie hegen ein tiefes Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen wie Politik, Medien und Wissenschaft. Alles ‘Gesellschaftliche’ und Prozesse wie Digitalisierung, Technologisierung und Bürokratisierung scheinen keinen Bezug zur eigenen Lebenswelt aufzuweisen und in überfordernder Weise über sie gestülpt zu werden. Sozial-ökologische Transformation wird als ebenso abstrakt erlebt – und folglich in wütender und abwehrender Weise als zusätzliche Zumutung durch ‘die da oben’ abgelehnt. Demgegenüber empfinden sich soziale Gruppen mit höherem Status eher als wirksamer, einflussreicher Teil der Gesellschaft. Sie befürworten Wandel, den sie eher als Herausforderung denn als Problem sehen, als gesellschaftlichen Fortschritt.
Dieser Riss zwischen gegensätzlichen Erfahrungswelten birgt einerseits die Gefahr, dass sich schlechter gestellte Bevölkerungsteile gesellschaftlich zurückziehen oder von demokratisch-freiheitlichen Prinzipien abwenden; andererseits, dass sie sozial-ökologische Transformation abwehren und nur nachteilige Folgen mit ihr verbinden, nicht jedoch die potentiellen Chancen für die Verbesserung ihrer Situation. Diese Gefahr wird dadurch verschärft, dass – befeuert durch die medial inszenierten parteipolitischen Debatten – in ‘denen da oben’ einseitig die grün-städtischen Bildungseliten gesehen werden. Tatsächlich zeigt die Umfrageauswertung, dass diejenigen, die trotz erwarteter Preissteigerungen oder Jobverluste eine sozial-ökologische Transformation klar befürworten, besser situierte, vor allem in öffentlichen Strukturen Tätige und vom Wandelprozess kaum betroffene Städter sind. Dabei wird aber eines übersehen: Diese sind durchaus bereit, selbst Abstriche zugunsten Benachteiligter zu machen. Sozialen Ausgleichsmaßnahmen und Umverteilungspolitiken stehen vielmehr solche Akteure entgegen, die wirtschaftliche und politische Macht haben und Eigentumsinteressen vertreten. Auch dies bleibt ein gesellschaftspolitisch ausgeblendetes Thema.
In der Verteidigung solcher partikular-privater Interessen durch vermögende Gruppen wird eine weitere Dimension des sozial-ökologischen Klassenkonflikts deutlich: der ‘Lebensweisekonflikt’. Menschen, deren Status vor allem auf materiellem Eigentum fußt und die vorrangig in Berufen in der Privatwirtschaft tätig sind, verteidigen privat-partikulare Interessen. Sie sprechen sich gegen staatlich-gesellschaftliche Eingriffe aus und bremsen dementsprechend sozial-ökologische Transformationsbemühungen, wenn diese ihre wachstumsorientierte Lebensweise in Frage stellen. Auf der anderen Seite setzen sich Menschen, deren Status vorrangig auf Bildung sowie zwischenmenschlichen Berufen in vorwiegend öffentlich finanzierten Bereichen fußt, eher für allgemein-öffentliche Interessen ein. Sie priorisieren beispielsweise die Verbesserung öffentlicher Infrastrukturen in Verkehr, Gesundheitswesen und Bildung. Sie sind pro-transformativ eingestellt und können sich dementsprechend alternative Lebensweisen vorstellen. Im Kern geht es beim Lebensweisekonflikt um die Verteilung des Reichtums zwischen Privathaushalten und öffentlicher Hand. Doch auch diese Verteilungsfragen werden öffentlich unzureichend verhandelt; stattdessen fokussiert man auf kulturelle Differenzen der verschiedenen Lebensweisen (Stadt/Land, Alt/Jung etc.).
Dreieckskonstellation von Mentalitäts- und Interessengegensätzen
In den hier grob skizzierten Konfliktdimension stehen sich in der deutschen Gesellschaft drei Mentalitätsspektren mit je spezifischen Klassenlagen konflikthaft gegenüber: das ökosoziale Spektrum, das zügige und entschlossene Transformation fordert, das konservativ-steigerungsorientierte Spektrum, das die gewohnte, auf Wachstum fixierte Lebens- und Wirtschaftsweise gegenüber Veränderung verteidigt, und das defensiv-reaktive Spektrum, das geprägt ist von Resignation und Rückzug bis hin zu wütender Abwehr gegen ‘grüne’ und transformative Initiativen. Dieser sozial-ökologische Klassenkonflikt zwischen den Mentalitätsspektren hat durchaus das Potenzial, die demokratisch-freiheitliche Ordnung sowie das Gelingen einer klima- und sozial gerechteren Ausgestaltung unserer Gesellschaft zu gefährden, sofern den darunterliegenden Mentalitäts- und Interessengegensätzen nicht genügend politisch-gesellschaftliche Beachtung geschenkt wird.
Denkanstöße
Dieses gesellschaftliche Stimmungsbild mag ernüchternd wirken. Doch gibt sie auch Denkanstöße: Wie kann eine Wiedereinbindung gesellschaftlich Entfremdeter gelingen bzw. wodurch kann Gesellschaft wieder konkret erlebbar gemacht werden? Es ist längst überfällig, unter anderem auf Märkten abgewertete Bereiche aufzuwerten – beispielsweise durch gewerkschaftlich-politische Förderung der Sektoren Pflege, Bildung, Gesundheit, welche die Grundlage für das Funktionieren unserer Gesellschaft schaffen. Hilfreich wäre auch, oben angesprochene Umverteilungspolitiken und einen verbesserten Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen anzugehen – mit dem Ziel, ein gutes Leben für möglichst viele zu ermöglichen.
Die hier angerissene Darstellung der Umfrageergebnisse können detaillierter nachgelesen werden:
Eversberg, Dennis /Fritz, Martin / von Faber, Linda / Schmelzer, Matthias (2024): Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt: Mentalitäts- und Interessengegensätze im Streit um Transformation. Forschungsbericht der BMBF-Nachwuchsgruppe “Mentalitäten im Fluss (flumen)”, Jena. Friedrich-Schiller-Universität, Institut für Soziologie, Jena. https://doi.org/10.22032/dbt.59592
Ein Buch mit ausführlicheren Hintergünden zur Methodik, zur Beschreibung der Mentalitätstypen und zur Deutung erscheint voraussichtlich im Sommer 2024 bei campus.
Zur Autorin:
Judith Kiss ist in der Nachwuchsgruppe “Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften (flumen)” an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftstransfer sowie Projektkoordination.
Hinweis:
Vom 26. – 28. April 2024 findet die Tagung “Zeiten des Umbruchs. Perspektiven einer Ökologie der Zeit” in der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Hier wird Judith Kiss über Zeiten hoher Unsicherheit, Angst vor zu schnellen Änderungen und Angst vor zu langsamen und nicht genügend starken Änderungen sprechen.
Alle weiteren Programmpunkte und Referierende der Tagung sowie Informationen zur Anmeldung finden Sie hier.
Bild: Judith Kiss (Foto: André Helbig)
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