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Strafe muss sein – Der Gerechtigkeit zum Recht verhelfen

Vergangene Woche ist Anwar R. in Koblenz wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, wegen Tötungen und Folter, wegen 27-fachen Mordes und vieler weiterer Straftaten zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Studienleiter Dr. Jochen Wagner fragt in diesem Blogartikel: Wo fängt die Gewalt an? Was braucht es zur Bildung hin zum humanen Subjekt, “so dass unsere bipolare Natur zu Anstand, Empathie, Gerechtigkeit wie Zivilcourage, statt dem Tyrannen in den Arm zu fallen, erzogen wird?” Und wie kann Gerechtigkeit geschehen, wenn Ungerechtigkeiten nie ungeschehen gemacht werden können?

 

“Lebenslänglich!” Das Urteil, welches das Oberlandesgericht Koblenz nach 108 Verhandlungstagen gegen einen vielfachen Menschenschänder des syrischen Assad-Regimes am 13. Januar fällt, ist ein Paukenschlag: “Lebenslänglich!” Das weltweit erste Strafverfahren gegen Mitglieder des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so der Titel der Staatsanwalt für ihre seit April 2020 geführte Verhandlung, war ermöglicht worden durch das sogenannte Weltrechtsprinzip, das hierzulande seit 20 Jahren in Kraft, im Inland wie im Ausland sowie gegen Ausländer wie Inländer und deren Verbrechen gegen universale Werte ahnden will. Erstmals spricht nach den Plädoyers auch der Angeklagte, der ehemalige Oberst und Leiter der Ermittlungsabteilung im Gefängnis 251 der allgemeinen syrischen Staatssicherheit in Damaskus. Doch der Täter, ohnehin kaum gedolmetscht, belässt es bei wenigen Worten. Er bestreitet die Vorwürfe – “Ich habe die mir vorgeworfenen Taten nicht begangen” – und seine Verteidiger fordern Freispruch. Was jedoch unter der Chiffre Willkommensparty bzw. hinter der Sonne oder Vater des Zorns sowie an von Geheimdiensten verübten Kategorien und Details der Folterpraktiken entfaltet wird, ist an Grausamkeit nicht darstellbar.

Es sind einige Opfer im Saal. Doch was hilft es, wenn es ihnen guttut, nun einen Täter in Handschellen zu sehen? Allein dem Angeklagten werden 4000 Fälle zur Last gelegt, wenigstens 58 Leute hätten die Folter nicht überlebt. Insgesamt aber zähle das Assad-Regime mehr als 100 000 Menschen als Opfer in Folter-Gefängnissen. Mit einer akribischen Bürokratie hat man denn die Leichen sorgsam in Massengräbern und Aktenordnern verschwinden lassen. Dessen ungerührt scheut nochmals der Angeklagte nicht davor zurück, in Anwesenheit von Zeugen sich selbst als eine Art Widerstandskämpfer im Chefbüro zu bezeichnen. Eine zynische Variante der bekannten Banalität des Bösen.

Gleichviel, dies nebenbei, haben Behauptungen auch deutscher Politiker, Damaskus und ähnlich vermeintlich kontrollierte Gebiete seien für Abzuschiebende wie Rückkehrer sicher, das Niveau von Heul doch, du Opfer. Dass ein kommender Prozess in Frankfurt demnächst einen weiteren Syrer als Folterer anklagen wird, dessen ziviler Beruf Arzt war, offenbart nicht zum letzten Mal, zu welcher Perversion Menschen fähig sind. Das Urteil immerhin verschafft den Gefolterten eine kleine Gerechtigkeit. Die Anerkennung des Terrors, von Leid, Qualen und Tod, dass wenigstens die Täter nicht noch ungestraft lebens-länglich über ihre Opfer triumphieren, vielleicht hilft das Recht, seine Kraft der Genugtuung, auf Rache zu verzichten. Doch was hat das Urteil möglich gemacht?

“Recht und Sühne – Syrien als Fall für Den Haag?”

Wenn man auf der so betitelten Tagung (Tutzing, 1. bis 3. Februar 2019) unter anderem Cuno Tarfusser (zu dieser Zeit Richter am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag) vortragen erlebt hat, dann ist dessen leidenschaftliches Plädoyer für ein Weltrechtsprinzip unvergesslich. Bislang waren Prozesse nur auf dem Boden des Landes machbar, wo das Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde. Das Koblenzer Urteil schafft nun ein globales Apriori, die Ermöglichungsbedingung, Verbrecher weltweit, wo immer sie sich verstecken wollen, anzuklagen. Und doch reicht auch dieses neue Rechtsinstrument nicht, wie Cuno Tarfusser 2019 in Tutzing fast verzweifelt intonierte. Es braucht Beweise, den Verbrechern ihre Verbrechen nachzuweisen, und zwar ohne die Gültigkeit der Rechte auch für sie zu verletzen. “Doch woher die Beweise nehmen?”, fragte Tarfusser.

Der Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg für die Gruppe “Caesar”

Mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis ehrt die Stadt Nürnberg politisches, riskantes Engagement. Im Jahr 2017 wurden der syrische Fotograf und seine Unterstützer mit dem Decknamen Caesar in einem Festakt im Opernhaus gegenüber der von dem jüdischen Künstler Dani Karavan gebauten Straße der Menschenrechte ausgezeichnet. Die Gruppe Caesar hat unter Lebensgefahr drastische Beweise für Folter, etwa 50 000 Fotos, aus dem Land geschmuggelt. Mit dem Preis als Symbol für Frieden will der Nürnberger Menschenrechtspreis eine Antwort der Stadt auf die dort 1935 verabschiedeten nationalsozialistischen Rassengesetze sein. Er soll “aller Welt ein Symbol dafür sein, dass von Nürnberg niemals mehr andere Signale ausgehen dürfen als solche des Friedens, der Versöhnung, der Verständigung und der Achtung der Menschenrechte”, erklären die Initiatoren. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre an Einzelpersonen oder Gruppen verliehen, die sich “in vorbildlicher Weise und unter hohem persönlichem Risiko für die Wahrung der Menschenrechte einsetzten und einsetzen”. Die Fotos von Caesar nun zeigen Folter, Leid und Tod. Sie dokumentieren Morde “in industriellem Ausmaß”, wie es ein ehemaliger Chefankläger der Vereinten Nationen nannte.

Ein ehemaliger syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar schmuggelte mit den besagten Fotos die Beweise aus Syrien heraus. Mehr als die Hälfte davon zeigt Menschen, die in syrischen Gefängnissen durch Folter, Hinrichtungen, Krankheiten, Unterernährung oder andere Misshandlungen getötet wurden. Auch der am 24. September 2017 ausgezeichnete Caesar wurde von dem Verlangen angetrieben, dass die dokumentierten Menschenrechtsverbrechen nicht straflos bleiben. Natürlich sieht sich die Jury mit Blick auf die Nürnberger Prozesse verpflichtet, in der Noris als Stadt der Aufmärsche (derzeit herrscht in Nürnberg eine große Diskussion, was mit dem großen Kongresszentrum der Nazis am Dutzendteich letztlich geschehen soll) auch die Stadt der Reformation und der Aufklärung, sowie als Wiege des modernen Völkerstrafrechts zu erinnern. Wie nun fand auch die Gruppe Caesar zu ihrer Haltung, aus dem Eingedenken der Opfer zur Zivilcourage unter Todesgefahr? Wie groß muss der Grad an Enthemmung sein, dass Menschen anderen Menschen derart Bestialisches in regelrechter Routine antun? Ab dem Bürgerkrieg in Syrien ab 2011 musste Caesar die Leichen von syrischen Soldaten wie Oppositionellen fotografieren und die Bilder systematisch archivieren. Das Ausmaß des Schreckens war für ihn zu groß. “Ich habe so etwas noch nie gesehen”, bezeugte er der französischen Journalistin Garance Le Caisne, die den Preis stellvertretend für Caesar öffentlich entgegen nahm. Die Fotos für den Koblenzer Prozess hat seit November 2020 der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Köln, Professor Markus Rothschild untersucht und auf 26 938 Fotos Gewaltakte und Tote identifiziert.

Es ist kein Dokument der Kultur, was nicht auch eins der Barbarei wäre

Mit Walter Benjamins Diktum stellt auch der Koblenzer Prozess die Frage: Wie können Menschen anderen Menschen schier grenzenlose Gewalt antun? Das Ausmaß an Destruktion allerorten bis hinein in unsere Fernsehunterhaltung rezitiert in jeder Sekunde etwa Büchners Danton, “was das ist, was in uns lügt, stiehlt, hurt und mordet”? Dabei ringe, so Immanuel Kant, in unserer Doppelnatur der Hang zum Bösen mit der Anlage zum Guten. Nicht nur mit Blick auf den Bürgerkrieg in Syrien und das unvermindert gespenstisch gegen die Bevölkerung wütende Assad-Regime, das vor den Augen der Völkergemeinschaft etwa an Waffenlieferungen keinen Mangel hat, fragen wir uns: Was zivilisiert unseren freien Willen? Wieviel Wirkmacht hat eigentlich das Recht?

Gewalt herrscht seit jeher: Kain erschlägt Abel, seinen Bruder. Zum Himmel schreit seither jedes Verbrechen. Doch dessen Einspruch, gar Schutz vor Gewalt ist selten. Soll Abel auf ewig Opfer, Kain auf ewig Täter bleiben? Was hülfe selbst ein jüngstes Gericht? Was Menschen Menschen antun, kann nicht rückgängig gemacht werden. Daher, so noch einmal Walter Benjamin, sei gegenüber erlebtem, abgeschlossenem Glück, das Unglück nie abgeschlossen – sein Anspruch an Gerechtigkeit, Sühne erlösche nie!

Strafe muss sein. Es ist nicht übertrieben, anzumahnen, den modernen Rechtsstaat höher zu schätzen, als es in den Bewusstseinsformen des Alltags, auch aktuell im Kontext von Corona, geschieht. Dass das Böse, dessen Banalität ja nicht an Bestialität spart, durch die Erfindung des Rechts eine soziale Revolution darstellt, dass dem vermeintlich natürlichen Recht des Stärkeren der Schutz und die unantastbare Würde eines jeden Menschen gegenüber gestellt wurde, dass schließlich ein Gewaltmonopol des Staates die zerstörerische Triebstruktur des Menschen zivilisatorisch zu überformen sucht, die gesamte Rechtstradition als Gegenwelt, ist alles andere als selbstverständlich. Doch zugleich wird, und sei es im Kinderspiel, der Krieg als Vater aller Dinge verherrlicht, trügt der Schein raufender Unschuld alla Räuber und Gendarm etwa in Computerspielen wie “Fortnite” oder “Counter-Strike” gewaltig. Augenscheinlich geht der Kampf von Gewalt und Recht, Prävention und Krisenintervention weiter. Evident unterliegt das noch so gute Argument im Streit oft der bloßen Faust oder einer Waffe. Der Waffenhandel indes gilt, ungeachtet der Zerstörungen, Wunden, Schmerzen und Qualen für die Opfer, als unverzichtbar für Arbeitsplätze und Bruttosozialprodukt. Wo also fängt die Gewalt an? Was braucht es zur Bildung hin zum humanen Subjekt, so dass unsere bipolare Natur zu Anstand, Empathie, Gerechtigkeit wie Zivilcourage, statt dem Tyrannen in den Arm zu fallen, erzogen wird?

Ein Mensch ist so empfindlich wie jeder andere auch

Wenn schon ein Krimi unsäglich erscheint, wenn zu seinem Ausgang die Täter ungestraft davonkommen oder das Verbrechen im hellen Schwarz mit surrealen Psychologismen verrätselt verschwimmt, wie unerträglich muss dann ein Koblenzer Prozess sein, dessen Urteil zwar den Täter auf lebenslänglich abstraft, jedoch, wie keine Gewalttat, und sei sie noch so klein, kein Verbrechen ungeschehen, geschweige denn ungeschehen machen kann?

Man muss sich nicht nach voraufklärerischen Zeiten zurücksehnen, wo auch die Imaginationen des göttlichen Rechts das Heilige allzu oft an der Schleifspur der Gewalt erkennbar machten. Noch jeder eigene Himmel hatte seine Hölle für die Anderen parat. Doch zu einer echten Metaphysik, so zeigt es noch jede theologische Dogmatik, bot zum Schluss die Lehre von den letzten Dingen auf. Unverzichtbar war für jene Eschatologie eine finale Apokalypse, wie sie sich bis heute als von Johannes verfasstes letztes Buch der Bibel findet. Hierin kommt es zu einem finalen Prozess, einem Shotdown, das heißt: Es wird abgerechnet. Je nach Ausmaß der Gerechtigkeit Gottes, da streiten sich Links- und Rechtsapokalyptiker, hebt das Jüngste Gericht die unerträgliche Unwiderrufbarkeit der Gewalt auf: einmal mit, einmal ohne Apokatastasis, der Lehre der Erlösung aller.

Ob das den Opfern zumutbar ist, dass auch die Täter mit erlöst werden von ihren Taten, der Schuld, der Scham? Spricht der irdische Triumph der Kains über die Abels nicht gegen so ein universales Happyend? Klaus Theweleit hat mit seinem Buch Das Lachen der Täter solche Triumphgesten der Schlächter reflektiert. Doch, ja, klar: Diese eschatologische Apokalypse zu einem geschichtsphilosophischen Sühne- und Rechtsverfahren samt messianischer Wiedergutmachung gehört religionskritisch zu den religiösen Illusionen. Doch kann man sich einen leeren Himmel vorstellen? Was, wenn kein Gott sei? Was, wenn etsi deus non daretur es keine finale Gerichtsbarkeit gibt, jedwede Strafe oder Rache ausbleibt?

Wenn die Opfer einfach nur Pech hatten und die Täter Massel? Ohne Vorsehung, ohne Heilsplan, regiere dann der bloße Zufall, wer in Saus und Braus lebt und wer sich in der Gosse den Eiter wegkratzt. Kontingenz, Zufall, Menschentun, das wäre dann eine ausweglos verdichtete Immanenz ohne Transzendenz – wer hält das aus, einen Kain als ewigen Täter, einen Abel als ewiges Opfer? Insofern steht angesichts der Gewalt jede Sekunde in Frage: Wie also geht es weiter? Negative Szenarien aus der Dialektik der Aufklärung halten als Prophezei an der bisherigen nur minder zivilisatorischen Evolutionslogik fest, dass es zwar eine Entwicklung von der Steinschleuder zur Megabombe, aber keine vergleichbare von der Zerstörungswut zur Humanität gebe. Dafür sei das Apfelhäutchen der Zivilisation über unserer tierischen Natur einfach zu dünn. Man kann also mit Fug und Recht befürchten, dass es weiterhin nicht nur zum Behufe siegreicher Selbstbehauptung zur Enthemmung der eigenen Aggression kommen wird, frei nach Macchiavellischer Manier, wer sich zum Lamm macht, lockt die Wölfe. Sondern in einer brennenden Welt voller ungesühnter Gewalt und nach wie vor zum Himmel schreiender Ungerechtigkeiten mit Empathie auch politisches Engagement für stabiles, verlässliches Recht gelernt werden muss.

Wenn eben des verstorbenen Künstlers, Dichters, Filmemachers, Dramaturgen, Theaterschreibers und Lyrikers Herbert Achternbusch gedacht wird, dann sei auch auf eine seiner Postkarten verwiesen: zum Bild, das sein Gesicht aus einem Kinderwagen herausschauen zeigt, serviert er die Gnome, ein Mensch ist so empfindlich wie jeder andere auch. Dies kleine Einmaleins des Mitempfindens, das emphatische Minimalprogramm des Humanums nennt der Prophet Ezechiel in seiner Eschatologie ein fleischernes Herz, wofür dem Menschen das steinerne Herz herausgerissen werde (Kapitel 36). Die politische Theologin Dorothee Sölle überliefert dazu ein Gedicht: 
meine junge Tochter fragt mich / griechisch lernen wozu / sympathein sage ich / eine menschliche fähigkeit / die tieren und maschinen abgeht / lerne konjugieren / noch ist griechisch nicht verboten.

Zu schön um wahr, zu naiv um effektiv zu sein? Jürgen Habermas hat anlässlich eines Workshops mit ihm in unserem Hause im Oktober 2021 zu seinem großen zweibändigen Alterswerk Auch eine Geschichte der Philosophie mehrfach und auch in seiner kurzen Dankesrede auf die Verleihung des Tutzinger Löwens an ihn, die Treue, ja die Solidarität mit der gestürzten Metaphysik (so Adorno) angemahnt, Es sei keine altersmilde Frömmigkeit, sondern das Gebot politischer, menschenrechtlicher Empathie, die nicht säkularisierbaren semantischen Potenziale der Religion wach zu halten: Trost und Einspruch einer aufgeklärten nachmetaphysischen Metaphysik müssten als bleibend normative Gehalte im Eingedenken für alle namenlosen Opfer von Alltag und Geschichte lebendig gehalten werden. Walter Benjamins Begriff der profanen Erleuchtung stehe hierzu Pate und zitiere eine schwache messianische Kraft in uns.

Der Koblenzer Prozess ist ein kleines jüngstes Gericht – das Weltrechtsprinzip ein Widerstand wider die Höllen hinter der Sonne. Lebenslänglich.

 

Dr. Jochen Wagner

 

 

 

Bild: Straße der Menschenrechte in Nürnberg von Dani Karavan 1993; 30 Säulen in 30 Sprachen (Foto: Hans-Georg Vorndran via Fundus.Media)

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