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Sophie Scholl und Hildegard Hamm-Brücher – zum 100. Geburtstag

Hildegard Hamm-Brücher gehörte in München zum Freundeskreis der Geschwister Scholl. Deren Ermordung verstand sie als Berufung, Politikerin zu werden. Über die besondere Verbindung von zwei Idealistinnen.

von Udo Hahn

Die eine wird am 9. Mai 1921 geboren, in dem württembergischem Städtchen Forchtenberg, die andere zwei Tage später in Essen. Begegnet sind sich die beiden erstmals 1940 in München. Die eine studiert Philosophie und Biologie, die andere Chemie. Die eine wird am 22. Februar 1943 hingerichtet, die andere stirbt 95-jährig: Sophie Scholl und Hildegard Hamm-Brücher. Freiheit ist das Leitmotiv der unbeugsamen Studentin, die den Begriff – als wollte sie ihn bekräftigen – gleich zweimal auf die Rückseite der Anklageschrift schreibt. Unbeugsam ist auch die andere, die ihr gesamtes Leben explizit der Verteidigung der Freiheit widmet. Und zwar mit einem solchen Nachdruck, wie kaum eine andere Persönlichkeit im Politikbetrieb nach 1945.

Wenn nicht alles täuscht, werden beide durchaus auch als (Stil-)Ikonen verehrt. Sophie Scholl mit Blick auf das Porträt, das für die Briefmarke und die Gedenkmünze anlässlich ihres 100. Geburtstags verwendet wurde. Es zeigt eine junge Frau im Profil – mit herabhängenden Haarsträhnen und leicht gesenktem Kopf, die Augen konzentriert auf den Boden gerichtet. Sieht man vom geblümten Kleid mit Rüschenkragen ab, so erinnert die Optik – bewusst oder unbewusst – eher an die Umweltaktivistin Greta Thunberg und rückt Sophie Scholl in die unmittelbare Gegenwart. Die Botschaft: eine selbstbewusste Frau. Selbstbewusstsein strahlen auch die Porträts von Hildegard Hamm-Brücher aus. Ihr elegantes Auftreten, meist im feinen Kostüm, prägen das Bild einer Dame, die schließlich ehrerbietend immer wieder als “Grande Dame” tituliert wird.

“Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit”

Hildegard Hamm-Brücher lernt Sophie Scholl kennen in einem “lockeren Kreis”, wie sie einmal schreibt, um den Musikwissenschaftler Professor Kurt Huber. Jeder habe gewusst, wes Geistes Kind der andere war. “Wir alle waren ‘dagegen'”, hält sie in der Erinnerung fest. Vom Widerstandskampf der Weißen Rose weiß sie zu dieser Zeit jedoch nichts, wenngleich sie einzelne Flugblätter gelesen hat. Die Freundschaft zu den Geschwistern Scholl und weiteren Mitgliedern der Gruppe wird sie aber ein Leben lang prägen. Und so ist es legitim, sie rückblickend zum erweiterten Widerstandskreis um die Weiße Rose zu zählen.

In ihren Reden und sonstigen Veröffentlichungen nimmt Hamm-Brücher oft Bezug zur Widerstandsgruppe. Ihre Weiße Rose-Gedächtnisvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahre 1997 arbeitet sie zur Buchveröffentlichung aus. Diese stellt sie unter ein Zitat aus einem der Flugblätter der Bewegung: “Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit” – Die ‘Weiße Rose’ und unsere Zeit”.

Dass sie ihr Studium mit der Promotion abschließen konnte, dankt sie ihrem Universitätslehrer und Nobelpreisträger Heinrich Wieland, den die Halbjüdin liebevoll “Schutzpatron” nennt. Die Freude über ihr eigenes Überleben bleibt jedoch zeitlebens überschattet von der Erinnerung an den Opfertod der Mitglieder der Weißen Rose. “Deshalb stand für mich fest, dass ich mein neugeschenktes Leben nach dem Ende der Nazidiktatur für die Ziele einsetzen wollte, für die Sophie und Hans Scholl, Kurt Huber, Willi Graf, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Hans Leipelt auf dem Schafott gestorben waren.” Ihr Vermächtnis habe ihre politischen Überzeugungen und Einstellungen geprägt und ihr politisches Denken und Handeln bestimmt.

Es sind vor allem zwei Zitate, die Hildegard Hamm-Brücher immer wieder anführt. Aus dem Vierten Flugblatt: “Aber aus Liebe zu kommenden Generationen muss nach Beendigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, dass niemand auch nur die geringste Lust je verspüren sollte, Ähnliches aufs neue zu versuchen.” Und aus dem Fünften Flugblatt: “Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, eh‘ es zu spät ist!”

Kampf gegen das giftige Erbe der Diktatur

Für Hamm-Brücher sind dies kühne Visionen. Im Rückblick auf ihr Leben bilden diese beiden Zitate den entscheidenden Schlüssel zum Verstehen ihres Wirkens. Von 1945 bis 1948 ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der “Neuen Zeitung” (München) tätig. Eine Begegnung mit dem württembergisch-badischen Kultusminister und späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss motiviert sie zum Eintritt in die FDP. 1948 wird sie als jüngste Stadträtin des Münchner Stadtparlaments gewählt. Von 1950 bis 1956 zieht sie als Abgeordnete in den Bayerischen Landtag ein. Ihm gehört sie auch von 1970 bis 1976 an. 1964 führt sie den Sturz des Bayerischen Kultusministers Theodor Maunz herbei, nachdem dessen Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen Regime aufgedeckt worden sind.

Der Fall Maunz ist für sie symptomatisch für das Versagen der jungen Bundesrepublik, die sie immer wieder “Nach-Hitler-Zeit” nennt. Damit will sie auf das giftige Erbe der Diktatur des Nationalsozialismus aufmerksam machen, an dessen aktiver Beseitigung es in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft kein Interesse zu bestehen scheint.

“Ich bin als Kind der totalen Unfreiheit in der Nazidiktatur aufgewachsen, habe die Agonie der Weimarer Republik noch vage, den Aufstieg und Fall des Dritten Reiches bereits bewusst miterlebt, jedoch keinen aktiven Widerstand geleistet und – überlebt. 24-jährig wurde ich vom Joch der Diktatur befreit und habe mich seither – also über fünfzig Jahre – politisch engagiert”, schreibt sie 1997 in dem bereits erwähnten Band. Ihr damaliges Fazit: Es sei bisher nicht gelungen, “aus dem moralischen Vermächtnis des Widerstands gegen die mörderische Nazidiktatur verbindende und verbindliche Traditionen und Werte abzuleiten und vorzuleben, damit sie zum lebendigen Bestandteil unserer nationalen Identität werden können”. An einschlägigen Gedenktagen artikulierten offizielle Redner zwar Betroffenheit, im politischen Handeln und Verhalten führe das aber nur selten zu durchgreifenden Konsequenzen.

Im Kern lässt sich ihre Kritik so auf den Punkt bringen: Zu zaghaft, zu spät, zu ungenügend hat die Bundesrepublik Deutschland den Prozess der Wiedergutmachung betrieben, NS-Verbrechen zu sühnen versucht, sondern verdrängt und vergessen. Deshalb, so Hamm-Brücher, sei das Vermächtnis von Widerstand und Verfolgung “nie wirklich ins Zentrum unseres Politischen Bewusstsein gerückt”, bilanziert sie 1997 enttäuscht. Von dieser Einschätzung ist sie nie abgerückt.

“Prüfstein unserer Bewährung”

Sie selbst unternimmt alles, dass Mahnungen nicht folgenlos bleiben. Darin ist sie hartnäckig, mitunter auch unerbittlich, wenn sie die Erinnerung an die Irrtümer, Irrwege und Verhängnisse der deutschen Geschichte wachhält. “Den Mantel der Gleichgültigkeit” zerreißen – in diesem Bewusstsein engagiert sie sich zeitlebens in der Politik: u.a. als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, in unterschiedlichen Funktionen. 1991 zieht sie sich aus aktiven politischen Geschehen zurück. Drei Jahre später lässt sie sich als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten aufstellen. Sie unterliegt jedoch dem CDU-Kandidaten Roman Herzog. 1998 tritt sie aus der bayerischen FDP aus, vier Jahre später auch aus der Bundes-FDP. Sie protestiert gegen die rechtspopulistischen und antiisraelischen Äußerungen ihres Parteikollegen Jürgen W. Möllemann und deren Duldung durch Parteichef Guido Westerwelle während des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2002.

Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen, dieses Leitmotiv nennt sie für sich selbst “gültige Richtschnur und Verhaltenskodex zugleich”. Worauf es aus ihrer Sicht immer wieder ankommt: “Den Mantel der eigenen Gleichgültigkeit zu zerreißen und – im Sinne der Botschaft der Weißen Rose – Exempel der Mitverantwortung für mehr Menschlichkeit, für Gerechtigkeit und für aktive Toleranz zu statuieren.” Der Vollzug des Vermächtnisses der Widerstandsbewegung “war, ist und bleibt Prüfstein unserer Bewährung”, ist sie überzeugt.

In vielen ihrer Beiträge macht sie keinen Hehl aus der Einschätzung, dass die Demokratie in Deutschland in keiner guten Verfassung ist. Dies hängt nicht nur mit den nach wie vor unaufgearbeiteten Erblasten der Vergangenheit zusammen, sondern auch mit dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus und Antisemitismus in den 1990er Jahren. Vieles, was sie in jener Zeit schreibt und in Reden thematisiert, klingt wie eine Analyse der Gegenwart. Ein Beispiel: “Unsere Parteien-Demokratie funktioniert in ihren äußeren Abläufen, aber sie verliert sowohl an Erneuerungs- und Gestaltungskraft nach innen, als auch im Vertrauen und Zustimmung im Verhältnis zur Bürgergesellschaft.” Und sie fügt beschwörend hinzu: “Abhilfe tut not!”.

Die politische Verantwortung des Einzelnen

Im Engagement gegen Nationalismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, jedwede Diskriminierung und im Eintreten für Toleranz, Zivilcourage, Mitmenschlichkeit wäre aus ihrer Sicht ein “neuer moralischer Imperativ” begründet, der im Vermächtnis der Weißen Rose wurzelt. Ein ums andere Mal bedauert sie deren späte Würdigung und auch die der Widerstandsgruppe des 20. Juli sowie eines Dietrich Bonhoeffer.

Dass “die Politik” es richten könne, davon ist Hildegard Hamm-Brücher nie überzeugt gewesen. Sie sieht stets auch die politische Verantwortung des Einzelnen als Teil der Zivil- und Bürgergesellschaft. Sie muss ein “gelebter und unverzichtbarer Grundwert unserer politischen Kultur werden”, der nicht nur an Gedenktagen beschworen wird, sondern von Jugend auf erfahrbar sein müsse.

Dass Hildegard Hamm-Brücher ihre Botschaft ausdrücklich immer wieder an junge Menschen adressierte, dürfte auch mit Sophie Scholl zu tun haben. Es ist anzunehmen, dass Hamm-Brücher Sophie Scholls Blick auf die Welt, ihr Wirken und vielleicht ihren Tod quasi als Auftrag an sich verstanden hat. Mut, Wachsamkeit, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und entschieden für Menschen- und Freiheitsrechte einzutreten – das ist zweifellos das Erbe, dem sich Hildegard Hamm-Brücher verpflichtet weiß. Die Gleichaltrige stirbt. Und die andere kann sie im Handeln nicht vergessen. Sie darf das Leben leben, das Sophie Scholl durch ihre Hinrichtung verwehrt bleibt.

Die politische Verantwortung des Einzelnen – sie ist zu allen Zeiten auch jungen Menschen sehr wohl bewusst. In dem Sinne, wie Sophie Scholl und Hildegard Hamm-Brücher sie wahrnahmen, sind heute vielleicht die beiden Aktivistinnen Greta Thunberg und Amanda Gorman Erbinnen einer Verpflichtung, die nie endet. Und die im Blick auf den Einsatz gegen die Erdüberhitzung und für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Mahnung der Weißen Rose zu gehorchen scheint: “Entscheidet Euch, eh‘ es zu spät ist!”

 

Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing

 

Hinweis:

Der Beitrag ist zuerst in “Christ & Welt” erschienen (Ausgabe vom 6. Mai 2021). Unter diesem Link können Sie ihn abrufen.

 

Bild: Udo Hahn legte zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl weiße Rosen am Zaun an der Münchner Orleansstraße ab. An diesem Ort ist eines der bekanntesten Fotos der Geschwister Scholl und ihrem Freund Christoph Probst entstanden. Er könnte ein Gedenkort werden. (Foto: Holzmann/eat archiv)

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1 Kommentar

  1. “Dass “die Politik” es richten könne, davon ist Hildegard Hamm-Brücher nie überzeugt gewesen…” Genau, die Zivilgesellschaft muss sich fair und versöhnend erinnern. Vor allem in München, der Stadt der führenden Täter und Opfer, die oftmals Tür an Tür nebeneinder arbeiteten und lebten.

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