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Solidarität oder Barbarei? Entscheiden wir jetzt!

Wie lässt sich die Systemfrage stellen, die auch Klimaaktivist:innen derzeit ansprechen, wenn sie propagieren: “System Change, not Climate Change!” Die Ökonomin, Historikerin und Aktivistin Friederike Habermann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie die Gesellschaft solidarischer und nachhaltiger werden kann. Der Maßstab ist für sie dabei das gute Leben für alle.

Von Friederike Habermann

“Geh doch nach drüben!” Als es die DDR noch gab, war dies in der Bundesrepublik Deutschland der Standardspruch gegenüber Menschen, die eine bessere Welt wollten. Denn alle wussten: Drüben war es nicht besser. Später hing dann in mancher Wohngemeinschaft Roland Beiers Karikatur von Karl Marx, wie dieser sich schulterzuckend entschuldigt: “Tut mir leid, Jungs! War halt nur so ‘ne Idee von mir…”. Dennoch war er erst kürzlich Thema der Spiegel-Titelstory (1/2023) unter der Überschrift: “Grüner und gerechter – Hatte Marx doch recht?”

Es liegt auf der Hand, dass es eine bessere Art und Weise braucht, unser Zusammenleben und unsere Wirtschaft zu organisieren, sonst wird es diese Welt – wie wir sie kennen – nicht mehr lange geben. Hochwasserkatastrophen und verdorrende Bäume: Solche Bilder haben wir alle im Kopf. Mit vielen jungen Eltern kam in letzter Zeit das Gesprächsthema auf, wie besorgt sie sind, in welche Welt sie ihre Kinder entlassen.

Nein, “drüben” war es nicht besser. Es war nicht einmal so viel anders. Das Leben bestand vor allem daraus, an einem Arbeitsplatz zu arbeiten, den nicht jeder Mensch frei wählen konnte. Dafür gab es eine Entschädigung in Form von Lohn, und dieses Geld stellte das Mittel dar, mit dem der selbstbestimmtere Teil des Lebens möglich werden sollte: die Freizeit. Wie bei uns also, nur schlechter, oder? Es gab weniger Lohn und teils weniger Freizeitangebote. Doch wie viele Menschen können sich im Deutschland von heute noch großartig Freizeitaktivitäten leisten? Viele Bäder und anderes sind für nicht wenige Menschen zu teuer, um sie mehr als ausnahmsweise in Anspruch nehmen zu können. Sich konsumfrei bzw. ohne, dass es gleich etwas kostet, außer Haus zu beschäftigen, ist kaum möglich. Im Ergebnis wird Freizeit oft vorm Bildschirm totgeschlagen. Und dafür leben wir?

Im Realsozialismus gab es auch weniger Möglichkeiten, sich auf freie Art und Weise gesellschaftsgestaltend einzubringen. Das haben wir damit schon mal gelernt: Der Sozialismus als zentral organisierte Staatsmacht gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Aber auch bei uns geht der Glaube an wirkliche Gestaltungsmöglichkeiten verloren. Als Demokratie gilt vor allem, ab und an wählen zu gehen – doch gerade bei jenen Parteien, die Veränderung versprechen, verändert sich nach der Wahl vor allem ihre Parteipolitik. Wer nur demonstriert, wird nicht ernst genommen, das war zumindest die Erfahrung der jungen Menschen von Fridays for Future nach ihrem Erfolg von anderthalb Millionen Teilnehmenden am Klimastreik 2019. Wer zu zivilem Ungehorsam greift, wie es die sogenannten “Klimakleber” der Letzten Generation tun, wird von manchen Politiker:innen als “Klimaterrorist” gebrandmarkt.

Wie wäre es, sich umeinander und um die Welt sorgen zu dürfen?

Der Markt richtet es auch nicht. Er führt zum Ausschluss vieler Menschen von ausreichenden Ressourcen, denn ohne unbefriedigte Nachfrage bildet sich gar kein Gleichgewichtspreis. Der Markt stellt uns unter Verwertungszwang: Zwar dürfen wir heute essen, ohne zu arbeiten, aber es hängt nicht nur etwas Wohlstand, sondern auch unsere gesellschaftliche Anerkennung am beruflichem Erfolg. Das erzeugt Leistungsangst. Und strukturellen Hass: Denn wenn wir den Job ergattern, bekommen ihn alle anderen nicht. Der Markt zwingt uns, Dinge zu tun, die wir nicht tun wollen, und wenn wir etwas wirklich gern tun, dann unter Umständen, die wir nicht frei wählen können. Der Markt kann Wirtschafts- und Finanzkrisen nur vermeiden, indem er immer weiter wächst, aber jedes Wachstum vernutzt auch unseren Planeten weiter. Der Markt zwingt Unternehmen dazu, möglichst viele Ressourcen von Natur, Tier und Mensch möglichst un- oder unterbezahlt zu vernutzen, um im Konkurrenzkampf billiger sein zu können. Der Markt benachteiligt aufgrund geringerer Rationalisierungsmöglichkeiten die Leistungen des Globalen Südens sowie sorgende Tätigkeiten. Kurz: Er zwingt uns Dynamiken auf, die wir doch eigentlich ablehnen.

Doch wie wäre es, uns stattdessen um die Welt und umeinander sorgen zu dürfen? Nicht aus Existenzangst produzieren und funktionieren zu müssen, sondern aus der Lust heraus, uns mit unseren Fähigkeiten und unserer Fürsorge in die Welt einbringen zu dürfen?

Im Netzwerk Oekonomischer Wandel, vor einigen Jahren zusammen mit Christian Felber für die Gemeinwohlökonomie gegründet, mit Silke Helfrich für Commons und mit weiteren Menschen, die für Degrowth, für Solidarische Wirtschaft, für Kollaborative und Kokreative Ökonomie stehen, erkannten wir, dass wir zwar unterschiedliche Wege gehen, da wir unterschiedliche Ansatzpunkte sehen: Die einen fokussieren darauf, Zerstörungen durch Unternehmen zu begrenzen, andere bauen kleine solidarische Halbinseln im kapitalistischen großen Ganzen auf. Aber wir alle sagen: Wir sind nur auf unterschiedlichen Wegen. Unser Ziel ist dasselbe und es kann nur dasselbe sein: eine wirklich demokratische, herrschaftsfreie und bedürfnisorientierte Gesellschaft.

Ausgelöst durch den plötzlichen Tod von Silke Helfrich relaunchten wir 2022 als Netzwerk Oekonomischer Wandel – Network Economic Transformation, kurz: NOW NET, und öffneten uns damit für alle, nicht zuletzt Aktiven aus Care-, Klima- und anderen Bewegungen, die wissen, dass ihre Ziele ebenfalls nicht isoliert zu erreichen sind.

Die drei Wege, die sich dabei herauskristallisiert haben, lauten:

Märkte am Gemeinwohl ausrichten bzw. Marktkonkurrenz zurückdrängen. Es geht darum, die blinde Marktallokation durch intendiertes Handeln zu ersetzen. Indem die Gemeinwohlökonomie Produktionsbedingungen transparenter macht, macht sie Kaufentscheidungen demokratischer – ein erster Schritt. Wenn andererseits gemeinschaftsgetragene Betriebe wie auch Solidarische Landwirtschaft ohne ein System der Preise auskommen, sondern nur den Blick auf die Bedürfnisse von Produzierenden und Konsumierenden haben, ist das schon ein sehr weites Stück des Weges gegangen. Die Richtung aber ist in beiden Fällen dieselbe. Ansonsten kann keine Ökonomie geschaffen werden, die wirklich auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und die Achtung der planetaren Grenzen ausgerichtet ist.

Die Gesellschaft umfassend demokratisieren. Wenn es nicht der anonyme Markt ist, der entscheidet, und da es auch nicht wieder ein zentralisierter Staat sein soll, braucht es demokratische Entscheidungen. Demokratie ausbauen bedeutet aber nicht, etwas öfter wählen zu dürfen, sondern aktives Gestalten aller Lebensbereiche. Wenn sich im Rahmen der Initiative Deutsche Wohnen Enteignen, die in Berlin deutlich den Volksentscheid gewann, Mieter:innen in Wohnblöcken organisieren, und sei es, damit sie selbst über die Farbe an den Flurwänden oder die Gestaltung der Höfe entscheiden können, dann sind all dies einzelne Schritte in die richtige Richtung.

Commons aufbauen. Jenseits von Markt und Staat sinnstiftend unter Ebenbürtigen tätig sein – das sind Commons, das ist Commoning (in etwa mit den Begriffen Allmende bzw. Gemeingut übersetzbar). Silke Helfrich und andere haben Muster herausgefiltert, wie Commoning gelingt. Sie heißen zum Beispiel: Wissen großzügig weitergeben, sich in Vielfalt gemeinsam ausrichten und ohne Zwänge beitragen. Ohne dabei in kleinteilige Logiken zu verfallen, könnte daraus eine Gesellschaft erwachsen, in der Bedürfnisse so basisdemokratisch wie möglich befriedigt werden. Statt dem Wachstumszwang zu folgen, könnte für das Leben gesorgt werden. Statt in Konkurrenz gegeneinander könnten Bedürfnisse basisdemokratisch miteinander befriedigt werden. Und statt zu arbeiten, könnten wir die Vielfalt unserer Leidenschaften, in dieser Welt tätig zu werden, verwirklichen.

Ich selbst will den Begriff einer “sozialistischen Utopie” nicht verwenden, sondern lieber neuere Begriffe wie Ecommony. Erfahrungen mit Sozialismus differenziert zu diskutieren, um daraus für die Zukunft zu lernen, macht aber durchaus Sinn. Letztlich ist es egal, wie wir etwas benennen – solange wir dieselbe Vision verfolgen, gehen wir in dieselbe Richtung: zu einer wirklich demokratischen, wirklich den Bedürfnissen möglichst aller auf dieser Erde lebenden Wesen entsprechenden Welt.

 

Zur Autorin:
Dr. phil. Friederike Habermann, Ökonomin und Historikerin mit Promotion in Politischer Wissenschaft, ist Autorin von sieben Büchern, seit über 40 Jahren Aktivistin sowie freie Akademikerin. Nach einem Intermesso als Leiterin des Wirtschaftsressorts bei der Jungen Welt erforscht sie seit Jahrzehnten in Theorie und Praxis, wie eine solidarische Gesellschaft Wirklichkeit werden kann.

 

Hinweis: Dr. Friederike Habermann leitet auf unserer Tagung “Sozialismus – frei, demokratisch und grün?” (19. bis 21. Mai 2023) einen Workshop zum Thema “Aus den Fehlern des Realsozialismus lernen, heißt Commoning lernen” an und geht in einem weiteren Workshop der Frage nach dem “(Re-)Produktiven im Sozialismus – Frauen und Ökologie” nach.

Alle Informationen zu Ablauf, Referierenden, Freiplätzen und Anmeldemodalitäten zur Tagung unter diesem Link.

 

Bild: Friederike Habermann (Foto: privat)

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