Die Veröffentlichungen der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in evangelischen Institutionen wirft auch einen Schatten auf die evangelische Publizistik. In diesem Beitrag fragt der Theologe, Medienpädagoge und Autor Roland Rosenstock nach Unabhängigkeit und kritischer Distanz von evangelischem Journalismus.
Von Roland Rosenstock
Auf einer Pressekonferenz Ende Januar wurde das Missbrauchsproblem der Evangelischen Kirche offenbar: Der Abschlussbericht des Forschungsverbundes „ForuM“ hat Strukturen offengelegt, die sexuellen Kindesmissbrauch in Kirche und Diakonie ermöglicht und begünstigt haben. Auch wenn die unabhängige Studie von der Kirche selbst in Auftrag gegeben wurde, zeigt sich, dass jahrzehntelang in den 20 evangelischen Landeskirchen und den diakonischen Einrichtungen Täter geschützt und die institutionelle Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt verhindert oder verschleppt wurden. Allerdings: Viele Fälle von Machtmissbrauch konnten aufgrund der fehlenden Datenbasis überhaupt nicht erfasst werden, weil die notwendigen Personalakten nicht zur Verfügung gestellt wurden und die Dokumentation der Taten nur lückenhaft erfolgte.
Die öffentliche Kommunikation über das Versagen der Landeskirchen, die im Anschluss an die Pressekonferenz erfolgte, lässt den Vertrauensverlust in der Gesellschaft nur erahnen, auch wenn das Eingeständnis von Schuld glaubhaft vorgetragen wurde. Die Missbrauchsstudie macht schmerzhaft deutlich, dass Betroffene und Angehörige von kirchlichen Stellen nicht ernst genommen wurden und es bis heute keine einheitlichen Entschädigungsregelungen gibt.
Worüber bislang nur wenig gesprochen wurde, ist die Frage nach dem Versagen der innerkirchlichen Presse- und Medienarbeit. Der Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche wirft auch einen Schatten auf die evangelische Publizistik, die für unsere demokratische Gesellschaft eine öffentliche Verantwortung übernimmt, indem sie den Weg der protestantischen Kirchen kritisch begleitet, unabhängige Berichterstattung ermöglicht und Hintergrundgeschichten sorgfältig recherchiert. Hat sie die Kirche in einem besseren Licht dargestellt, als ihr in Wahrheit zukommt? Wie steht es um die Freiheit des Journalismus, gab es eine “Schere im Kopf”, wenn es um das Thema der sexualisierten Gewalt im Raum der Kirche ging?
Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut unter dem Dach der Kirche, erfüllt sie doch eine wichtige Funktion für die Wahrung der Unabhängigkeit der demokratisch gewählten Gremien. Denn bei wem soll die Deutungsmacht für das kirchenleitende Handeln liegen? Bei den Handelnden selbst oder bei Journalist*innen, die bei evangelischen Medien- und Presseverbänden angestellt werden, um nach hohen Recherche- und Qualitätsstandards ihren Beruf in einer kritischen Funktion ausüben zu können?
Evangelische Publizistik, kritisches Gegenüber zur verfassten Kirche?
In öffentlichen Verlautbarungen wird gern auf die Unabhängigkeit evangelischer Journalist*innen und das Leitbild der medialen Stellvertretung verwiesen, ein “Engagement ohne Eigennutz”, um den “Sprachlosen eine Stimme” zu geben. Auch hier grenzt man sich gern gegenüber der katholischen Kirche ab, da sich der Protestantismus in seiner Nachkriegsgeschichte zur öffentlichen Kritik und zur kritischen Urteilsbildung bekannt hat.
Das Paradigma der evangelischen Freiheit scheint besonders für die kirchliche Agentur- und Printpublizistik zu gelten. Doch die Funktion der evangelischen Publizistik, als kritisches Gegenüber zur verfassten Kirche, wurde in den vergangenen Jahren auch immer wieder in Frage gestellt. Denn die Vermeidung von Kritik, die Kirchensteuerfinanzierung imageförderlicher Magazine und Supplements, die Interessen kirchlicher Pressestellen und Kommunikationskampagnen und der Ruf nach Glaubensvergewisserung als Aufgabe der evangelischen Medienarbeit stellen die Freiheit der Redaktionen in Frage.
Ob es bereits eine Richtungsentscheidung war, dass die EKD im Jahr 2020 entschied, ihre Journalist*innenschule in Berlin zu schließen? Ein falsches Signal war es auf jeden Fall, denn es wurde öffentlich deutlich, dass die Evangelische Kirche nicht mehr bereit ist, in den Nachwuchs des Qualitätsjournalismus zu investieren.
Die Zukunftsfähigkeit der Kirche entscheidet sich darin, ob und wie unterschiedlich große Institutionen, Organisationen und Einzelpersonen im Spannungssystem des Protestantismus digital befähigt und lokal, regional und global miteinander vernetzt werden. Sie entscheidet sich aber auch darin, ob Menschen den kirchlichen Medien vertrauen.
Nicht nur im Blick auf das Missbrauchsproblem entspricht die gegenwärtige Krise der kirchlichen Printpublizistik dem Vertrauensproblem und Funktionsverlust der Kirche in der Gesellschaft. Dabei braucht es in der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft des Qualitätsjournalismus und die Gefährdungen unserer Demokratie die Evangelische Kirche als gesellschaftlichen Garanten für eine unabhängige Berichterstattung. Denn die beste Öffentlichkeitsarbeit für die Erneuerung der Kirche ist nämlich genau dies: die innere und äußere Freiheit journalistischer Arbeit auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten zu gewährleisten.
Zum Autor:
Prof. Dr. Roland Rosenstock ist Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie, Religions- und Medienpädagogik an der Universität Greifswald. In seiner Forschung beschäftigt sich der bayerische Pfarrer und Autor mit der Beziehung von Religion und digitalen Medien, der Geschichte der evangelischen Publizistik im 20. Jahrhundert und mit medienethischen Fragestellungen.
Hinweis:
Vom 28. Februar – 01. März 2024 findet die Tagung „Evangelische Publizistik – wohin?“ in der Evangelischen Akademie Tutzing statt, die Akademiedirektor Udo Hahn in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Roland Rosenstock, Zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick und dem Vorsitzenden des Evangelischen Medienverbandes in Deutschlands Dr. Roland Gertz konzipiert hat. Alle Informationen zu Programm und Anmeldemodalitäten finden Sie hier.
Bild: Roland Rosenstock (Foto: Uni Greifswald)
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