Uncategorized

Sauerteig werden.

Welche Reformimpulse gehen von der neuen Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU VI) aus? Darüber schreibt in diesem Beitrag Prof. Dr. Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Von Reiner Anselm

Die 6. Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft in Deutschland (KMU VI) ist ein Weckruf ([1]). Sie beschönigt nichts, sondern zeichnet ein unverstelltes Bild der Lage der Kirchen in Deutschland. Beide Kirchen sehen sich dabei einer stark gestiegenen Zahl von Kirchenaustritten sowie einer hohen Bereitschaft, diesen Schritt zu gehen, gegenüber. Beides ist zwar bei Katholiken noch stärker ausgeprägt als bei Protestanten, aber das kann kein Grund sein, die Hände evangelischerseits in den Schoß zu legen. Denn über diesen sehr ernüchternden Daten darf ein interessantes und überraschendes Ergebnis nicht aus dem Blick geraten: Den evangelischen Kirchenmitgliedern ist ihre Kirche nicht egal. Sie stimmen zu 80 Prozent der Aussage zu, die Kirche müsse sich grundlegend ändern, wenn sie eine Zukunft haben sollte. Nur wer noch ein Interesse an der Kirche hat, äußert sich in dieser Weise. Und gerade darum sollte dieser Impuls aufgenommen werden.

Sieht man sich nun genauer an, welche Reformerwartungen geäußert werden, so bietet sich ein auf den ersten Blick diffuses Bild. So sind 85 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder der Meinung, dass die Führungspersonen der Kirche demokratisch gewählt werden sollten. Da dies ja dem Grundsatz nach in den evangelischen Kirchen der Fall ist, erstaunt diese Aussage, weil ja doch fast ebenso viele grundlegende Reformen anmahnen. Fast noch verwirrender wird es, wenn man hinzuzieht, was die Mitglieder von ihrer Kirche erwarten: Es sind Aktivitäten im Bereich des sozialen Handelns und des entsprechenden, auch politischen Engagements. Eine stärkere Konzentration auf spirituelle Fragen wird dagegen nicht erwartet, nur ein kleiner Teil ist darauf ansprechbar. Allerdings, das wird man hier mit Nachdruck einschränkend betonen müssen, könnte es sich hier auch und gerade um die Menschen handeln, die etwa in einer sehr schwierigen Lebenssituation oder gar am Ende des Lebens stehen. Darüber sagen die Daten der KMU VI nichts aus. Dennoch: Für die übergroße Mehrzahl gehört das im engeren Sinne religiös-spirituelle Element nicht zentral zum Christsein dazu. Nur im Schnitt 16 Prozent der Evangelischen finden, dass in der Bibel lesen, in den Gottesdienst oder zum Abendmahl zu gehen unbedingt zum Christsein dazugehört. Dagegen geben 85 Prozent an, sich zu bemühen, ein verlässlicher und anständiger Mensch zu sein, gehöre unbedingt zum Christsein dazu. Dazu passt es, dass drei Viertel der Evangelischen meinen, die Kirche sollte sich weniger auf ihre Gottesdienste konzentrieren (die sie sowieso mehrheitlich nicht besuchen), sondern sich mehr in das gesellschaftliche und soziale Leben vor Ort einbringen.

Fügt man nun all diese Bausteine zusammen, dann ergibt sich schon ein klareres Bild, in welche Richtung die Reformen gehen sollten, erst recht, wenn man noch dazu nimmt, dass 77 Prozent derer, die einen Kirchenaustritt erwägen, als wichtigsten Reformschritt angeben, die Kirche müsse bekennen, wieviel Schuld sie auf sich geladen hat: Offenbar passen Anspruch und Realität nicht zusammen, in der Praxis erleben Kirchenmitglieder nicht, dass sie wirklich mitwirken können an ihrer vorgeblich doch so demokratischen und partizipativen Kirche. Die Anständigkeit und Verlässlichkeit, die als Kernelement des Christseins identifiziert wird, spiegelt sich anscheinend nicht in der erlebten kirchlichen Praxis wider. Dass zudem ehrenamtliche mehr in die Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten, verstärkt diese Diagnose.

Offenkundig wird die evangelische Kirche sehr viel weniger demokratisch, transparent und offen wahrgenommen, als es ihrem Selbstbild und auch ihrem Anspruch entsprechen würde. Hier müssen Reformen ansetzen. In meinen Augen bedarf es hier insbesondere einer kritischen Betrachtungsweise all derer Praktiken, die als Weiterführung des Ausübens von klerikaler Macht zu interpretieren sind. Das gilt selbstverständlich für all die Formen sexualisierter Machtausübung, über die im Nachgang zur ForuM-Studie intensiv gesprochen wird. Doch diese sollen hier nicht im Zentrum stehen, sondern die Formen von Macht und Autorität, die etwa mit dem Einklagen von mehr Partizipation und Mitbestimmung verbunden sind. Sicher ist dabei in Rechnung zu stellen, dass entsprechende Zuschreibungen zur Kirche vererbt werden, dass also die zweifelsfrei bevormundende Praxis früherer Generationen auch heute noch mit Pfarrpersonen verbunden wird, obwohl diese selbst nicht mehr in dieser Weise agieren. Allerdings gilt es auch auf die kleinen Gesten klerikaler Machtausübung zu achten: Wie ist es etwa mit dem Verweis, diese oder jene Praxis müsse sich theologisch oder biblisch begründen lassen? Solche Floskeln können, wenn sie dann nicht zweifelsfrei eingelöst werden können, schnell den Eindruck von Machtausübung erzeugen. Denn hier können Pfarrpersonen eine Autorität reklamieren, die sie gegenüber anderen Christinnen und Christen unangreifbar macht. Ebenso können ungedeckte Moralisierungen entsprechende Reaktionen auslösen. Schließlich wäre mit Nachdruck zu fragen, ob die Rolle, die Frauen in der Kirche zugestanden wird, jenseits von einzelnen Galionsfiguren wirklich den Vorstellungen entspricht, die weibliche Kirchenmitglieder vom Handeln der Kirche erwarten. Gerade kirchliches Leitungshandeln, gerade auch kirchliche Strukturen sind unter Beteiligung von ehrenamtlich Tätigen daraufhin zu befragen, ob sie den eigenen Partizipations- und Demokratieidealen wirklich entsprechen.

Aber verliert die Kirche dadurch möglicherweise ihren Markenkern, die Ausrichtung auf eine in der Bibel überlieferte und theologisch formulierte Heilsbotschaft? Dies ist in meinen Augen in keiner Weise der Fall. Denn hinter der Forderung, die Kirche müsse sich auf eine partizipative, demokratisch verfasste Gemeinschaft derer entwickeln, die sich sozial – das bedeutet in klassischer Sprache: für den Nächsten – engagieren, für ein durch Verlässlichkeit und Anstand geprägtes Miteinander verbirgt sich nichts anderes als die Sehnsucht nach dem Zusammenleben in der besseren Gerechtigkeit, die bereits die Faszination der Botschaft Jesu ausgemacht zu haben scheint. Und angesichts einer (Welt-)Gesellschaft, in der das Verbindende gegenüber dem Spaltenden immer schwächer wird, in der Quellen für das Gemeinsame immer stärker gesucht werden und zugleich klar wird, dass sich ein solches Miteinander nicht von selbst versteht, ist womöglich stärker denn je klar, dass es Orte und soziale Verbände braucht, die eine entsprechende Botschaft vertreten und auch leben. Nicht als Gegengesellschaft – in dieser Gefahr stehen die, die die Kirche als den Zirkel der Eingeweihten und Hochengagierten betreiben. Sondern – um ein biblisches Bild zu gebrauchen – als Sauerteig, der in dieser Weise die Gesellschaft durchdringt und prägt.

Allerdings gilt: Diese Botschaft muss sich – wie schon zur Zeit Jesu – im Handeln, in den fassbaren Strukturen und Praktiken, im gegenseitigen Umgang zeigen. Daran zu arbeiten, ist der Reformimpuls, der von der KMU VI für die Kirche ausgeht.

 

Über den Autor:
Prof. Dr. Reiner Anselm ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist darüber hinaus Mitglied im Kuratorium der Evangelischen Akademie Tutzing.

Hinweis

Vom 07. – 09. Juni 2024 findet an der Evangelischen Akademie Tutzing die Tagung “‘Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.‘ – Entscheidungsgründe der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ statt. Wenn Sie Informationen zum Programm und den Anmeldemodalitäten erhalten möchten, können Sie sich unter diesem Link anmelden.

 

 

[1] Die erste Auswertung zur KMU VI mit vielen interessanten, an einigen Punkten vielleicht auch überschätzten Deutungen lässt sich hier herunterladen.

 

Bild: Prof. Dr. Reiner Anselm (Foto: dgr/eat archiv)

Tags: , , , , , , , ,

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Unsere Regeln zum Kommentieren finden Sie hier.

*