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Mit Demenz leben lernen

“Prognostisch werden es bald zwei Millionen Menschen sein, die mit einer der Ausprägungen von Demenz leben und leben lernen müssen.”, schreibt der Jurist und Gerontologe Thomas Klie. In seinem Gastbeitrag fordert er dazu auf, die Betroffenen nicht zu Pflegefällen zu degradieren, sondern den Umgang mit Demenz als Aufgabe einer Gesellschaft des langen Lebens zu verstehen.

Von Prof. Dr. habil. Thomas Klie

 

Siebzig Varianten gibt es von dem, was wir in der Alltagssprache “Demenz” nennen. In der Wissenschaft haben wir uns von dem in seinem Wortsinn problematischen Begriff der De-menz (ohne Geist) verabschiedet und sprechen von “hirnorganischen Beeinträchtigungen”.

Die bekannteste und verbreitetste Form ist die der Alzheimer-Demenz (SDAT). Sie ist typisch im hohen Alter. Verbreitet ist ebenfalls die sogenannte vaskuläre Demenz – etwa als Folge von Schlaganfällen. Daneben gibt es viele andere, zum Teil auch im frühen Lebensalter auftretende Formen wie etwa die Frontotemporaldemenz (FTD) mit besonders herausfordernden Verläufen.

Demenz ist keine eindeutige Diagnose – eher ein Krankheitsbild. Kognitive Kompetenzen werden eingeschränkt, die Umgebung nimmt “Vergesslichkeit” bei den Betroffenen wahr, ihre die zeitliche und räumliche Orientierung kann verlorengehen. Einschränkungen der Alltagskompetenz sind typisch. Selbstverständlich hat die Demenz auch Krankheitswert. Sie ist aber im Wesentlichen als Behinderung des hohen Lebensalters zu verstehen. Hirnorganische Beeinträchtigungen sind in einer Gesellschaft des langen Lebens verbreitet. Prognostisch werden es bald zwei Millionen Menschen sein, die mit einer der Ausprägungen von Demenz leben und leben lernen müssen. Dies gilt dann auch für ihre An- und Zugehörigen, Freunde und Nachbarn.

Bedingungen des guten Lebens schaffen

Wir haben (noch) keine medizinischen Wege gefunden, eine demenzielle Erkrankung zu verhindern, sie maßgeblich in ihrem Verlauf zu beeinflussen oder gar zu heilen. Die Pille gegen Demenz gibt es nicht. Insofern muss es darum gehen, mit Demenz leben zu lernen: individuell, in Familien, in Nachbarschaften und der Gesellschaft insgesamt. Menschen mit Demenz sind rechtlich betrachtet Menschen mit Behinderung. Seit der Behindertenrechtskonvention, die auch und selbstverständlich für Menschen mit Demenz gilt und umgesetzt werden sollte, muss es darum gehen, ihnen die Teilhabe an den Dimensionen gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen, die ihnen individuell elementar bedeutsam sind. Mit den Worten der Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum: Es geht darum, Bedingungen guten Lebens für Menschen mit Demenz und ihre An- und Zugehörigen zu sichern bzw. um sie zu ringen.

Zu den Dimensionen des guten Lebens gehören nach Nussbaum:

  • der Erhalt körperlicher Integrität,
  • das Gefühl von Sicherheit,
  • die Möglichkeit sein Leben zu Ende leben zu können,
  • Gefühlserfahrungen machen und ausdrücken zu können – Freude und Trauer,
  • kognitive Fähigkeiten zu nutzen und zu erhalten,
  • Vertrauen schenken und erfahren zu dürfen,
  • Vorstellungen des Guten zu verfolgen,
  • Ziele verfolgen zu können – und seien es nur kleine,
  • Teil für einen bedeutsamer sozialer Netzwerke zu sein – Familie, Kirche, Nachbarschaft,
  • für andere bedeutsam zu sein und zu bleiben,
  • Naturverbundenheit leben zu können,
  • sich zurückziehen und für sich sein können –

um die wichtigsten zu nennen (nachzulesen in “Gerechtigkeit oder das Gute Leben”, erschienen im Suhrkamp-Verlag).

Dabei steht mitnichten nur die Pflege im Vordergrund. Es geht um den ganzen Menschen mit all seinen Sinnen und Empfindungen. Menschen mit Demenz zeichnet häufig eine ausgeprägte emotionale Schwingungsfähigkeit aus. Der bekannte Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse betont, dass Emotionen eine zentrale Ressource demenzkranker Menschen bilden, und dies über alle Phasen der Erkrankung. Der emotionale Ausdruck bietet einen Kompass im Zusammenleben und Umgang mit ihnen. Gerade in frühen Phasen einer Demenz ist es wichtig, sich möglichst offen und intensiv der Welt, der Kultur, der Natur zuzuwenden – als Resonanzen der Dimensionen des Menschseins. So können emotionale, empfindungsbezogene oder ästhetische Funktionen unterstützt und gestärkt werden.

Demenz führt uns in manche Geheimnisse unserer Existenz

In einer Studie, die ich in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demoskopie Allensbach 2017 veröffentlicht habe, konnten wir feststellen, dass 77 Prozent der Angehörigen von Menschen mit Demenz hohe emotionale Kompetenzen bei den Betroffenen wahrnehmen. Bürgerinnen und Bürger, die keine Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit Demenz haben, nahmen diese Kompetenz dagegen nur zu 48 Prozent wahr. Die Aussage, dass Menschen mit Demenz (oft) Humor besitzen, bejahten 49 Prozent der Angehörigen und nur 17 Prozent derjenigen, die keine Erfahrungswerte in der Begleitung von Personen haben, die mit demenziellen Veränderungen leben. (Quelle: Klie, Thomas (2017): DAK Pflegereport 2017. Gutes Leben mit Demenz: Daten, Erfahrungen und Praxis. Hg. v. Andreas Storm und DAK-Gesundheit. Heidelberg: medhochzwei Verlag. Mehr darüber finden Sie hier sowie als PDF zum Download unter diesem Link.) Es ist also wichtig für ein Verständnis von Demenz und Menschen mit Demenz, dass wir in Kontakt mit ihnen treten, die Fremdheit, das was bedrohlich wirken kann, überwinden.

Menschen mit Demenz führen uns in manche Geheimnisse unserer Existenz, die uns auch unheimlich und fremd erscheinen können. Viele von ihnen verlieren ihren Humor nicht – als weinende Weisheit wie ihn der bekannte Theologe und Autor Fulbert Steffensky beschreibt. Im Humor erträgt der Mensch ein unerträgliches Wie ohne Warum. Demenz hat keinen “Sinn”, es bietet kein Warum. Ein Wie zu ertragen ohne Warum (wie die berühmte Rose im Gedicht von Angelus Silesius), das stellt uns mitten in das Geheimnis der Existenz zwischen abgründiger Ambivalenz und Alltäglichkeit, wie es der Krankenpfleger und Philosoph Patrick Schuchter formuliert. Die Bedeutung des Humors – in diesem tieferen Sinn – für ein Leben mit Demenz hat den Künstler Peter Gaymann und mich zusammengeführt und uns zu dem Projekt Demensch gebracht. Der seit 14 Jahren erscheinende Tischkalender Demensch gehört dazu, (Wander-) Ausstellungen mit Cartoons und Texten, das inzwischen in zweiter Auflage erschienene Buch “Demensch – Texte und Zeichnungen” mit zahlreichen Beiträgen unter anderem von Wissenschaftler:innen, Kulturschaffenden, Politiker:innen und Profis. Und auch das “Demensch Trio” gehört dazu, das am 4. Mai in der Evangelischen Akademie Tutzing auftritt.

Menschen mit Demenz sind Mitmenschen

Wir wissen heute viel mehr über Demenz als noch vor wenigen Jahrzehnten. Wir wissen, was wir alles falsch machen können, wir wissen, was Menschen mit Demenz und ihren An- und Zugehörigen guttun kann. Wir wissen auch um die Verzweiflung, die mit einem Leben mit Demenz verbunden sein kann. Nicht die Bekämpfung, nicht die Angst vor Demenz, sondern tätige Mitsorge und Solidarität sind gefragt. In einer modernen Gesellschaft, die auf Autonomie gepolt ist, die Jugendlichkeitsbilder zum Ideal erhebt, in der wir versuchen, auch den Tod zu beherrschen – nicht zuletzt über rechtlich abgesicherte Formen des assistierten Suizides – fällt es nicht leicht, ein Leben mit Demenz zu akzeptieren. Aber es zählt zu den vielfältigen Variationen der menschlichen Existenz. Wir müssen lernen, Demenz als einen Weg aus dem Leben zu verstehen. Tod ist das Sicherste, um das wir wissen. Die Boomer-Generation, die nun mit dem Thema Demenz als Sorgende aber dann auch als Umsorgte konfrontiert ist und sein wird, wird sich in neuen Formen der Solidarität, als wir sie biografisch eingeübt haben, zu bewähren haben. Caring Community heißt eines der Leitbilder dafür.

Menschen mit Demenz brauchen unsere Sorge, unsere anteilnehmende Aufmerksamkeit. Wir dürfen sie nicht zum Pflegefall machen und degradieren. Zwar sind die Diagnosen aus dem Syndrom der Demenz die häufigsten, die zur sogenannten Pflegebedürftigkeit führen. Gerade Menschen mit Demenz wollen und sollen als unsere Mitmenschen erlebt werden. Es geht darum, ihnen in unserer Lebensführung Bedeutung zu schenken, sie nicht zu pathologisieren. Bedeutung für andere Menschen zu haben und sie ihnen schenken können, gehört zu den psychologisch elementaren Dimensionen eines “guten Lebens”. Uns gegenseitig beizustehen, damit die redundanten Aufgaben der Sorge fair verteilt werden, uns in Nachbarschaften, in Freundeskreisen und in Familien in geteilter Verantwortung einüben – darauf kommt es an. Dass wir gesellschaftlich die Sorge um Menschen mit Demenz nicht delegieren, weder an die Pflegeversicherung noch an ein Pflegeheim: Wir sind in unserer tätigen Mitsorge gefragt. Anders wird unsere Gesellschaft im demografischen Transformationsprozess kein menschenfreundliches Antlitz zeigen und die Zuversicht vermitteln, dass auch unter dem Vorzeichen von Demenz für uns gesorgt sein wird.

 

Über den Autor
Prof. Dr. habil. Thomas Klie ist Jurist und Gerontologe, war lange im Präsidium und Präsident der deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Als Sozialexperte ist er politikberatend tätig. Er forscht mit seinem renommierten Institut agp Sozialforschung seit langen (auch) zu Fragen der Demenz. Als Justitiar berät er die Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) in München.

 

Hinweis
Vom 03. – 05. Mai 2024 findet an der Evangelischen Akademie Tutzing die Tagung “Zukunft Demenz. Perspektiven für eine älter werdende Gesellschaft” statt, die in Kooperation mit Prof. Dr. habil. Thomas Klie, Studienleiter Dr. Hendrik-Meyer-Magister und Prof. Dr. Arne Manzeschke, Professor für Ethik und Anthropologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, entstanden ist.

Alle Informationen zum Programm und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.

 

Bild: Prof. Dr. habil. Thomas Klie (Foto: EH Freiburg / Fotograf Marc Doradzillo)

 

© Gaymann

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1 Kommentar

  1. Gerhart Gross says:

    Ein schöner theoretischer Ansatz voller Hoffnung – leider ohne Lösungsansätze. Denn, wer soll mit der Demenz leben lernen? Die betroffene Person, die immer hilfloser und lernunfähiger wird, die Angehörigen, von denen es oft keine mehr gibt oder die schlicht überfordert sind. Der Staat/ die Gesellschaft, die Pflegeheime? Zu Beginn der Krankheit mögen die emotionalen Kompetenzen noch hoch sein, aber was zu deren Ende hin.
    Zu meinem Leidwesen, eine Lösung habe ich leider auch nicht. Vielleicht leben wir alle nur zu lange allein mit der Hoffnung vor Augen möglichst lange leben zu können statt uns mehr mit der Qualität des Lebensendes zu beschäftigen nach dem Motto: Es kommt nicht drauf an viele Jahre zu leben sondern den Jahren mehr Leben.

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