Urbanes

Es geht ums Ganze

„Die Kirche darf nicht im Dorf bleiben. Heimat, Volk, Europa, die Ökumene sind die Orte, an denen Christen und Kirchen ihr Leben gestalten müssen.“ So hat Reinhard Frieling, der langjährige Direktor des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim, 1991 in einem Vortrag die Verantwortung der Kirche im europäischen Einigungsprozess beschrieben. Mehr ist auch heute nicht zu sagen, um das kirchliche Engagement in Europa zu begründen.

Frieden und Versöhnung – das sind nach dem Zweiten Weltkrieg die wichtigsten Früchte, die die europäische Einigung hervorgebracht hat. Blickt man auf die Entwicklung der letzten Jahre zurück, so zeigt sich, dass in praktisch allen Ländern der Europäischen Union (EU) die Fliehkräfte Auftrieb erhalten haben, die unverhohlen ihre Auflösung betreiben. Und als wären die Wirtschafts- und Schuldenkrise, der Streit um die gerechte Verteilung von Flüchtlingen, wiedererstarkender Nationalismus und Antisemitismus nicht schon genug Krisenherde, so steht in einigen Ländern die liberale Demokratie auf dem Spiel. Nämlich dort, wo der Rechtsstaat zunehmend ausgehebelt wird, die Freiheit der Medien bekämpft und den vielfältigen Akteuren der Zivilgesellschaft die Legitimität abgesprochen wird.

Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung

Dabei ist es eine Binsenweisheit – und doch bedarf sie der ständigen Wiederholung: Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Bei näherem Hinsehen ist – wie angedeutet – die Lage differenzierter, aber im Grundsatz bleibt die Behauptung richtig. Es scheint also nicht übertrieben, wenn im Blick auf die Europawahlen am 26. Mai von einer Schicksalswahl gesprochen wird. Es geht ums Ganze.

Dass die EU pauschal in Frage gestellt wird, ist auch das Ergebnis der Politik nationaler Regierungen, die gerne „Brüssel“ für alles verantwortlich machen – aber im eigenen Land verschweigen, dass sie der EU das Mandat dazu gegeben haben. Der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle dürfte schon 2010 die Folgen geahnt haben, als er die Europakritik der früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt wie folgt konterte: „Über Europa kritisch zu reden, ist leicht. Europa aber dann, wenn es schwierig ist, zu verteidigen, auch als großes Friedens- und Wohlstandsprojekt, das ist schon sehr viel schwieriger … Europa wird als große Idee erst dann wirklich errungen sein, wenn auch die Generation, die Krieg und Hunger nicht erlebt hat, ohne Wenn und Aber zu Europa steht.“

Hier können die Kirchen die Erfahrungen ihrer eigenen Geschichte einbringen und ihren Beitrag leisten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihn 2017 in einer Rede in der evangelischen Christuskirche in Rom die „Versöhnungsgeschichte der einst blutig zerstrittenen Christenheit“ als Hoffnung für eine heutige Einigung in Europa beschrieben. Er forderte dazu auf, das Modell der „versöhnten Verschiedenheit“ zum Vorbild für die Zusammenarbeit in Europa zu machen. Harding Meyer, der langjährige Leiter des Instituts für Ökumenische Forschung in Straßburg, hatte die Formel geprägt. Sie dient im ökumenischen Diskurs als Bezugspunkt.

Ohne Versöhnung ist die politische Einigung in Europa kaum denkbar

Ohne die „versöhnte Verschiedenheit“ überzustrapazieren, man kann sie auf die EU übertragen. Sie könnte jenen die Angst nehmen, die ein zentralistisches, uniformes Europa befürchten, das einzelnen Ländern und Regionen ihre Identität nimmt. Unterschiede dürfen demnach bestehen bleiben, aber sie müssen nicht in Abgrenzung zueinander noch geschärft werden. Vielmehr ist auf dieser Basis Einheit ohne Uniformität in Europa möglich. Ohne Versöhnung ist die politische Einigung in Europa kaum denkbar. Hier haben die Kirchen durch ihre Arbeit zur Friedlichen Revolution vor dreißig Jahren entscheidend beigetragen. Und tatsächlich nehmen EU-Abgeordnete immer wieder Bezug auf diese Leitidee. Sie ist also in der Politik angekommen.

Eine aktuelle Gefahr hat der frühere Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, schon vor über zwei Jahrzehnten vorhergesehen. Auf der Europäischen Evangelischen Versammlung 1992 in Budapest sagte er: „Wir haben darauf zu bestehen …, dass Europa sich nicht isoliert, zu einer schwimmenden Festung erklärt, die mit allen Mitteln … Privilegien verteidigt, die der sozialen und politischen Entwicklung der Weltgesellschaft im Wege stehen.“ Mit dieser Perspektive weitet sich noch einmal der Horizont über die EU hinaus und deutet an, welche Aufgabe Europa im weltweiten Kontext hat.

Der Autor, Udo Hahn, ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint am 12. Mai 2019 in der Mitteldeutschen Kirchenzeitung „Glaube + Heimat“ (Ausgabe Nr. 19). Weitere Informationen finden Sie hier.

Bild: Udo Hahn (Foto: eat archiv)

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