Der Migrationsforscher Mathias Beer betrachtet in seinem Beitrag die gegenwärtige Flüchtlingsfrage in Deutschland im Lichte der Vergangenheit und kommt zu dem Schluss: Deutschland braucht nicht nur eine für Zuwanderung zuständige Bundesbehörde, sondern auch ein Zuwanderungsgesetz.
Im Juni dieses Jahres veröffentlichte der UNHCR, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, seinen jüngsten Bericht: Global Trends 2019. Danach gab es weltweit 79,5 Millionen zwangsvertriebene Menschen. Sie waren das Ergebnis vor allem von Verfolgungen, Konflikten, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Fast 60 Prozent von ihnen waren Flüchtlinge im eigenen Land. Mit 85 Prozent entfiel der größte Teil der weltweiten Flüchtlinge auf Entwicklungsländer. Knapp drei Viertel der Flüchtlinge hielten sich in den Nachbarländern ihres Heimatlandes auf. 40 Prozent aller registrierter Flüchtlinge waren Kinder. Diese Zahlen in die Jahre zwischen 2010 und 2019 einordnend, spricht der Bericht von einem Jahrzehnt der Vertreibungen.
1.
Mit den Folgen dieses Jahrzehnts der Vertreibungen war und ist auch die Bundesrepublik als eines der europäischen Hauptaufnahmeländer für Flüchtlinge in besonderem Maß konfrontiert. Ende 2015 hatte die Bundesrepublik 1,1 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Auch wenn seither der weiter anhaltende Zustrom von Flüchtlingen zurückgegangen ist, ist die Flüchtlingsfrage zu einem die deutsche Innen-, Europa- und Außenpolitik beherrschenden Thema geworden und wird es sicher auch noch bleiben.
Vor dem Hintergrund der steigenden Flüchtlingszahlen stieg nicht nur der Grad der Emotionalität der Auseinandersetzungen. Mit Blick auf die als historisch eingestuften Ereignisse wurden immer neue Vergleiche bemüht. Waren zunächst die hohen Flüchtlingszahlen in der Bundesrepublik zu Beginn der 1990er Jahre der Vergleichsmaßstab, so wurde mit der deutschen Flüchtlingsfrage am Ende des Zweiten Weltkriegs bald tiefer in die Requisitenkiste der Geschichte gegriffen. Mittlerweile scheint auch dieser Vergleichsmaßstab überholt zu sein. Von einer „Völkerwanderung“ wird mit Blick auf die Flüchtlingsfragen der Gegenwart gesprochen.
2.
Wenn die deutsche Vergangenheit nach ähnlichen Migrationsbewegungen befragt wird, nimmt die Flüchtlingsfrage nach 1945 einen prominenten Platz ein. Damit sind die rund 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen gemeint, die im und als Folge des zweiten Weltkrieges ihre Heimat in den Ostgebieten des Deutschen Reichs und einer Reihe ostmitteleuropäischer Länder verlassen mussten. Sie flohen, wurden um-, ausgesiedelt oder vertrieben. Rund acht Millionen kamen in die Bundesrepublik, 4,5 Millionen in die DDR. Mit einem Anteil von über 20 Prozent der Bevölkerung haben sie die Entwicklung der beiden Staaten bis hin zum vereinigten Deutschland maßgeblich und nachhaltig beeinflusst. Die Flüchtlingsfrage war ein gewichtiger Teil der Gründungskrise der Bundesrepublik.
Entgegen der Erwartung und Vorhersage vieler Zeitgenossen im In- und Ausland gelang es in einem langen Prozess zunächst den Zeitzünder der Flüchtlingsfrage zu entschärfen und schließlich den neutralisierten Sprengkörper in das Fundament des entstehenden Staates einzufügen. Die befürchtete destabilisierende Wirkung trat nicht ein. Wichtige Faktoren, die dazu beigetragen haben, waren der sich zum Ost-West-Gegensatz verschärfende Kalte Krieg, die Westintegration der Bundesrepublik, das deutsche Wirtschaftswunder, der Wohnungsbau und der Lastenausgleich. Doch die verglichen mit der Ausgangssituation nicht für möglich gehalten Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch nach Jahrzehnten die Eingliederung der Vertriebenen noch nicht vollzogen war. Die Analyse der Daten des Mikrozensus von 1971 weisen in unterschiedlichen Bereichen eine damals noch bestehende Chancenungleichheit von Alt- und Neubürgern nach. Auch bei den deutschen Vertriebenen erstreckt sich die Integration auf mindestens drei Generationen. Deren schnelle Integration ist ein Mythos.
3.
Welche Schlüsse lassen sich aus der Analyse der Aufnahme der rund 12,5 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen und deren weitgehend erfolgreiche Integration und Assimilation in der Bundesrepublik ziehen? Die Aufnahme von Millionen von Migranten in kurzer Zeit kann gelingen, ihre Integration kann erfolgreich verlaufen und die Flüchtlinge und die aufnehmende Gesellschaft können daraus Vorteile ziehen. All das kann, muss aber nicht eintreten und tritt schon gar nicht zwangsläufig ein.
Damit das Mögliche auch tatsächlich eintritt, bedarf es eines bestimmten Voraussetzungsbündels. Dazu zählen neben den internationalen Rahmenbedingungen gezielte staatliche Maßnahmen zugunsten der Flüchtlinge, darunter auch ein Integrationsministerium, wie das zwischen 1949 und 1969 bestehende Bundesvertriebenenministerium war. In einem solchen Kontext erwies das Experiment der ungewollten Aufnahme und Integration von Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland langfristig betrachtet positive Folgen – für die Flüchtlinge und für die aufnehmende Gesellschaft. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist in großen Teilen auch ein Ergebnis dieses letztendlich erfolgreichen Integrationsprozesses.
Wenn der Eingliederungsprozess deutscher Flüchtlinge und Vertriebenen mehr als drei Generationen gedauert hat, so darf angenommen werden, dass die Folgen der gegenwärtigen Flüchtlingsfrage ein Experiment mit sicher noch höheren Anforderungen, auf jeden Fall mit einer noch deutlich längeren Dauer und auch offenem Ausgang sein wird. Für dieses Experiment kann der Staat neben dem Asylgesetz und den internationalen Flüchtlingsverpflichtungen auch mit einem Zuwanderungsgesetz, dass es in der frühen Bundesrepublik zwar nicht namentlich, aber mit dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz facto gab, klare Rahmenbedingungen setzen. Die Bürger ihrerseits sind aufgefordert, das Zusammenwachsen von Alt- und Neubürgern im Alltag zu leben.
Deutschlands Flüchtlingsfrage der Gegenwart erweist sich im Lichte der Vergangenheit als ein Kapitel der deutschen Zuwanderungsgeschichte, die mit der Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in der so genannten Stunde Null ihren Anfang nahm.
Ein Land, das nach Jahrzehnten zu dem Schluss gekommen ist, ein Zuwanderungsland zu sein, braucht sowohl eine dafür zuständige Bundesbehörde und ein konsistentes Zuwanderungsgesetz.
Dr. habil. Mathias Beer ist Zeithistoriker an der Universität Tübingen mit dem Forschungsschwerpunkt Migration der europäischen Neuzeit und Zeitgeschichte. Dazu hat er mehrere Publikationen vorgelegt, für die er 2017 mit dem Ludwig Uhland-Preis ausgezeichnet wurde.
Hinweis:
Der Beitrag ist zugleich Gastkolumne im Dezember-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Er erscheint am 30. November 2020. Mehr dazu hier.
Der Autor ist Referent bei der Tagung „Deutschland in der Stunde Null“ der Evangelischen Akademie Tutzing. Die Veranstaltung wird voraussichtlich als digitales Format stattfinden. Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.
Bild: Dr. habil. Mathias Beer (Foto: Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen)
Die angemahnte Erinnerung an die gesamte deutschen Migrationsgeschichte hat eine ehrwürdige Vorgängerin in 2. Mose 23,9: “Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen, denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil auch ihr Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid”. Das ist wichtig, klärt aber nicht alles. Zum Zuwanderungsland – ein Begriff, den Dr. Beer zitiert, aber wohlweislich nicht definiert – gehört ein Zuwanderungsgesetz; schon das auszusprechen erfordert Mut. “Kein Mensch ist illegal” reicht nicht. Mit der Publikums-Frage “Muss irgend jemand in Deutschland wissen, warum ein Migrant zu uns kommt?” könnte man eine Podiumsdiskussion sprengen. Die Seerettung zu unterstützen, statt öffentlich die Abschaffung des Asylrechts zu fordern, ist feige und tödlich.