Himmel & Erde

Demokratie stärken!

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sieht dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer die errungene Demokratie als nicht mehr selbstverständlich an. „Es ist die Stunde der Populisten, der großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser“, schreibt er und fordert die Verteidigung von Freiheit und Demokratie.

In diesem Herbst erinnern wir uns besonders intensiv an die dramatischen Ereignisse vor drei Jahrzehnten – die friedliche Revolution, den demokratischen Neuanfang in der DDR, den Durchbruch durch die Mauer. Erinnerungen, die wirkliche Anlässe zur Freude sind!

Denn: Die friedliche Revolution war – hart errungen – die erste ihrer Art in der Geschichte unseres Volkes. Es gab gewiss zuvor schon einige Revolutionen in Deutschland, aber eben keine, die unblutig verlief und zugleich erfolgreich war. Eine Revolution, in der Freiheit und Einheit nicht zum Gegensatz wurden, im Gegenteil. Eine Revolution zudem, die in ganz Europa mit Sympathie begleitet wurde. Das genau macht sie wirklich zu einem historischen Wunder! Erst die Freiheit – dann die Einheit! Erst der 9. Oktober 1989, dann der 9. November 1989 und ein Jahr später dann der 3. Oktober 1990 – das war die Reihenfolge der Ereignisse, die zusammen den geschichtlichen Prozess charakterisieren.

Um das gänzlich (auch uns selbst) Überraschende, ja auch Unwahrscheinliche der historischen Vorgänge zu begreifen, muss man sich die Jahrzehnte davor vergegenwärtigen. Ich erinnere an den 17. Juni 1953 in der DDR, an die Aufstände 1956 in Ungarn und Polen, an den Bau der Mauer am 13. August 1961, an den Prager Frühling 1968, an Solidarnosc und das Kriegsrecht in Polen 1980/81: Die Geschichte der DDR und unserer östlichen Nachbarn war eine Geschichte von Unterdrückung, von enttäuschten Hoffnungen, von Niederlagen, bis nur der Mut der Verzweiflung blieb – und eine letzte neue Hoffnung auf Gorbatschow, auf „Perestroika“ und „Glasnost“. Das war, so meine Erinnerung, die Stimmungslage 1989: zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Angst und Mut. Und der Mut hat schließlich obsiegt!

Als der Glauben nicht nur Privatsache war

Ohne die Kirchen, ohne die Christen hätte es die Revolution – jedenfalls als friedliche – wohl nicht gegeben! Die Kirche (vor allem die evangelische) bot schützendes Dach für Oppositionsgruppen, sie war Ort von Freiheit in einem unfreien Land, in ihr konnten freie Rede und demokratische Auseinandersetzung erprobt werden – gewiss unter Einschränkungen und Ängsten und unter misstrauischer Beobachtung von Seiten des Staates. Das erklärt den doch auffälligen, von vielen (westlichen) Beobachtern als überraschend empfundenen Umstand, dass unter denen, die in der Herbstrevolution und im demokratischen Neubeginn eine wichtige Rolle spielten, besonders viele evangelische und auch katholische Christen waren. Und es erklärt auch, warum ausgerechnet evangelische Pastoren und katholische Pfarrer zu Moderatoren der runden Tische in vielen Städten der DDR wurden. Die Kirche hatte offensichtlich eine so große politisch-moralische Autorität erworben, dass sie zu einem glaubwürdigen Akteur der Umwälzung werden konnte. Das will mir noch immer als eine besonders schöne Pointe der Geschichte erscheinen: Der Staat, in dem Religion bestenfalls Privatsache sein sollte, wurde – nicht allein aber doch entscheidend – durch Christen überwunden, die ihren Glauben eben nicht bloß Privatsache sein lassen wollten, sondern aus ihm öffentliches, politisches Engagement ableiteten.

Tempi passati? Ja und nein. Gewiss leben wir, zu unserem Glück, wiedervereinigt in einem guten und wohlhabenden Land mit einer funktionierenden Demokratie, mit  einem verlässlichen Rechts- und Sozialstaat, mit all den Grundrechten und Freiheiten, nach denen wir Ostdeutsche uns so lange gesehnt haben. All das ist selbstverständlich geworden – und ist es doch nicht mehr. Wir erleben die Gleichzeitigkeit neuer dramatischer Veränderungen: die Globalisierung, also Entgrenzung und Beschleunigung wissenschaftlich-technischer, ökonomischer, kultureller Entwicklungen, die digitale Transformation, die unsere Arbeitswelt radikal verändert, die Flüchtlingsbewegung, die das Fremde und die Fremden uns näher rückt und unsere Vertrautheiten und Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. All das erzeugt bei vielen Menschen Unsicherheiten und Ängste. Misstrauen und Unzufriedenheit nehmen zu, die Sehnsucht nach den einfachen, schnellen Lösungen, ja nach Erlösung von der Problemlast, von den Ängsten wächst, Wut und Empörung werden laut. Das ist die Stunde der Populisten, der großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser. Die errungene Demokratie, so selbstverständlich sie uns geworden ist und so sicher sie erschien, ist gefährdet. In vielen europäischen Ländern gewinnen radikale, populistische Parteien an Zustimmung. Das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie schwindet – im Osten Deutschlands mehr als im Westen. Es gibt eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten – nach der ostdeutschen Erfahrung eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie ideell-moralischer Art, nach der vielfachen Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder der Angst davor, dem Empfinden von Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen. Gefährliche Zeiten.

Die Erinnerungen an den Aufbruch von 89 sollten also zu Fragen danach führen, was wir heute zu tun haben für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Welche Art von Courage und wieviel ziviler Mut zum Widersprechen, zu selbstverantwortlichem Handeln, zum öffentlichen politischen Engagement werden auch und gerade in einer Demokratie gebraucht, wenn diese denn lebendig und zukunftsfähig sein soll.

Wolfgang Thierse ist heute Leiter des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. Die Wende in der DDR vor 30 Jahren bildete den Startpunkt seiner politischen Laufbahn. Im Oktober 1989 trat er dem Neuen Forum bei, im Januar 1990 wurde er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR. Von März bis Oktober 1990 war er Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR.

In der Herbsttagung des Politischen Clubs mit dem Titel „30 Jahre friedliche Revolution … in Erinnerung, in Kritik und Debatte heute“ vom 15. bis 17.November 2019 blickt Wolfgang Thierse zurück und zieht Bilanz. Weitere Informationen hier.

Hinweis:
Dieser Blogbeitrag ist zugleich aktuelle Gastkolumne im November-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing, der am 31. Oktober 2019 erscheint. Nähere Informationen hier.

 

Bild: Wolfgang Thierse während der Sommertagung des Politischen Clubs im Juni 2019. (Foto: Haist/eat archiv)

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