Freiheit bleibt im Sommer 2021 das allseits beherrschende Thema. Urlaub machen vom anstrengenden Pandemiealltag? – Mit Einschränkungen. Doch wo endet eigentlich die persönliche Freiheit? Und kann es einen Zwang zur Solidarität geben? Nach Freiheit fragt auch die Theologie. In seinem Blogbeitrag beschäftigt sich Studienleiter und Pfarrer Hendrik Meyer-Magister mit Freiheit und Verantwortung.
Freedom is just another word for nothing left to lose schnodderte Janis Joplin 1970 ins Mikrofon. Grenzenlose Freiheit ist das große Thema ihres Folk-Hits “Me and Bobby McGee”. Freiheit? Ist doch nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr zu verlieren zu haben! Sich von allen Bindungen frei gemacht zu haben, bedeutet, wahre Freiheit zu erleben. In diesem Geist trampt ein abgebranntes Paar durch die USA all the way into New Orleans und aus Kentucky bis in die Sonne Kaliforniens. Sie spielt Mundharmonika im Takt der Scheibenwischer, er singt den Blues, sie weiht ihn in die Geheimnisse ihrer Seele ein.
Freiheit! Das ist auch das Thema dieses Sommers. Endlich wieder unterwegs sein, Urlaub machen, den anstrengenden Pandemiealltag mal wieder hinter sich lassen können! Ich hoffe, Sie sind mittlerweile nicht so abgebrannt, dass Sie nach Italien trampen müssen, all the way into Naples… Vielleicht haben Sie ja auch einige unbeschwerte Tage “Ferien im Schloss” bei uns in Tutzing verbracht: ausspannen, im Liegestuhl liegen, sich von der Schlossküche verwöhnen lassen, alle kleinen und großen Sorgen des Alltags für ein paar Momente hinter sich lassen. Freiheit im Schloss, sozusagen. Doch kaum beginnen die Schulferien in Bayern, zeigt sich, wie verwundbar die Freiheit in den Sommerferien ist: Testpflicht für alle Reiserückkehrer:innen bei der Wiedereinreise aus dem Ausland. Grenzenlose Freiheit, wie wir Sie in einem friedlichen, geeinten Europa seit Jahrzehnten gewöhnt sind, kann es auch im Sommer 2021 noch nicht wieder geben.
Freiheit und Solidarität
Freiheit! Seit Beginn der Pandemie ringen wir um sie. Da sind die einen, die sich in ihren Grundrechten eingeschränkt fühlen durch Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen. Was sie damit meinen ist: Auch angesichts einer globalen Pandemienotlage weiterhin tun und lassen zu können, was sie wollen, ohne dabei Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Dass sie damit ein Virus verbreiten könnten, dass anderen – oder ihnen selbst – gefährlich werden könnte, rechtfertigt für sie keine Freiheitseinschränkungen, wenn sie die ganze Pandemie nicht gleich für eine Erfindung finsterer Mächte halten. Freiheit – ohne Rücksicht auf Verluste!
Und da sind die anderen, die zur Solidarität mit vulnerablen Gruppen und besonders gefährdeten Menschen aufrufen. Alle sind zu Freiheitseinschränkungen aufgefordert und auch verpflichtet, um das Leben anderer nicht zu gefährden.
Die Debatte um Impfungen von Jugendlichen zeigt, dass auch hier sorgfältiges Abwägen nötig ist: Wieviel Solidarität kann man von den Bevölkerungsgruppen denn noch verlangen, die im Durchschnitt von Covid-19 nicht besonders gefährdet sind? Denn es ist das Wesen echter Solidarität, dass sie jenseits von wohlfeilen Solidaritätserklärungen immer mit echten Opfern zu tun hat: Wer wirklich solidarisch ist, verzichtet auf etwas. Und gerade junge Menschen, Krippen- und Kindergartenkinder, Schüler:innen, Auszubildende und Studierende haben bereits für die Solidarität mit Älteren über mehr als ein Jahr große Opfer gebracht: Notbetreuung, keine Schwimmkurse, kein Präsenzunterricht, keine Cliquentreffen, kein Kino, keine Partys, keine Clubs und Bars, kein Studierendenleben. Ein verlorenes Jahr in jungen Jahren, in denen jeder Monat zählt. Solidarität – ohne Rücksicht auf Verluste?
Freiheit von und Freiheit zu
Freiheit ist auch das große Thema der Moderne. Es war das Projekt der Aufklärung und dann insbesondere des Liberalismus, bürgerliche Freiheiten gegen die absolutistischen Staaten und Herrscher des 17. und 18. Jahrhunderts zu erkämpfen und durchzusetzen. Bürgerliche Freiheitsrechte bedeuten in diesem Sinne zunächst einmal eine Freiheit von staatlicher Einmischung ins Private, ins Ökonomische und Religiöse. Man spricht hier von negativer Freiheit, der Freiheit von etwas. In der Tat ist das die Wurzel des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes: Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. sind Abwehrrechte gegen staatliche Ein- und Übergriffe in die ganz eigene Freiheitssphäre der Person. Hier liegt das berechtige Erbe des politischen Liberalismus in unserer Gesellschaft und Politik.
Besonders pointiert lässt sich dieses Freiheitsverständnis beim deutschen Aufklärer schlechthin, Immanuel Kant, finden: Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit meines Nächsten beginnt – und auch erst dort. Im Bild gesprochen: Solange meine Bäume nicht über den Zaun zum Nachbarn wachsen, darf ich innerhalb meines Gartens anpflanzen, was ich will. Im Bereich meiner Freiheit darf ich tun und lassen, was ich möchte. Der Staat hat lediglich die äußere Aufgabe, die Einhaltung der Grenze zwischen den Grundstücken zu gewährleisten, also die einzelnen Freiheitsräume gegeneinander abzustecken und zu wahren. Das allgemeine Prinzip aus Kants Rechtslehre lautet folglich: “Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen könne.” Schon an diesem klassischen, aufklärerisch-liberalen Freiheitsbegriff wird klar, wie die Forderung auch in der Pandemie weiterhin tun und lassen zu können, was man will, nicht aufgeht. Denn indem ich ohne Maske in den Supermarkt gehe, zwinge ich andere, stärker gefährdete Personen mir aus dem Weg zu gehen und schränke sie so in ihrer Freiheit ein. Meine Aerosole wehen eben auch über den Gartenzaun. Kant hätte Maske getragen.
Es gibt aber noch einen zweiten Strang des modernen Freiheitsdiskurses, der besonders mit dem Namen Hegels verbunden ist. Es ist der Gedanke, dass Freiheit auch ermöglicht werden muss. Statt von negativer, ist hier von positiver Freiheit die Rede. Es geht um die Freiheit zu etwas. Wer etwa fordert: “Freie Fahrt für freie Bürger!” und aus Freiheitsgründen gegen ein staatliches Tempolimit auf der Autobahn argumentiert, darf nicht vergessen, dass es der Staat als politisches Organ der Gesellschaft ist, der überhaupt die Autobahn gebaut hat und unterhält. Gäbe es keinen aus den Steuern aller Bürger:innen finanzierten Straßenbau, wäre “Freie Fahrt für freie Bürger!” eine absurde und lächerliche Parole, während man mit der PS-starken Limousine im Schneckentempo über den Acker holpert.
Man muss nicht so weit gehen wie Hegel und den preußischen Staat des 19. Jahrhunderts als höchste Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit preisen, um zu erkennen: Freiheit ist nicht voraussetzungslos, sondern muss immer auch institutionell verwirklicht und ermöglicht werden. Negative Freiheit setzt positive Freiheit voraus. Im Übrigen findet sich auch dieser Gedanke im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes: Die Rechte auf körperliche Unversehrtheit, auf freie Entfaltung der Person oder der freien Religionsausübung lassen sich auch als Anspruchsrechte lesen, die den Staat nicht nur auffordern, sich aus dem Leben seiner Bürger:innen herauszuhalten, sondern ihn genauso in die Pflicht nehmen, für ein funktionierendes und für alle zugängliches Gesundheitssystem sowie für Rahmenbedingungen des religiösen Lebens Sorge zu tragen.
Freiheit in Gemeinschaft
Freiheit in ihren verschiedenen Facetten ist auch ein Thema der Theologie. Ein theologischer Freiheitsbegriff beginnt mit der schlichten Einsicht, dass wir Menschen sind und keine Götter. Absolut frei ist nur Gott. Als Menschen erleben wir Freiheit nie unbedingt – wir sind an Raum und Zeit gebunden wie auch an Naturgesetze, die uns etwa daran hindern, uns einfach in die Lüfte zu erheben, selbst wenn wir es wollten. Einen theologisch-qualifizierten Freiheitsbegriff hat der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und Berliner Bischof Wolfgang Huber pointiert auf den Begriff gebracht: Freiheit ist immer kommunikative Freiheit, Freiheit in communio, in Gemeinschaft. Das beginnt bei der Gemeinschaft mit Gott, dem wir das Leben und seine Rechtfertigung verdanken. Konkret: Weil Gott uns geschaffen hat und annimmt, tragen wir Menschen Würde – der theologische Ausgangspunkt für die unverhandelbaren negativen Freiheitsrechte, die diese Würde schützen und in den Menschenrechten kodifiziert sind. Unsere menschliche Freiheit gründet in unserer Gottesbeziehung. Sie ist von Gott gewährt und schon allein deshalb nicht schrankenlos. Dabei ist es eine entscheidende Einsicht der Reformation, dass wir in dieser Gottesbeziehung durch Gnade befreit sind zur Freiheit, wie es Paulus den Galatern schreibt: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! (Gal 5,1). Weil für unser Heil gesorgt ist, sind wir frei uns dem Nächsten in seinen Sorgen und Nöten zuzuwenden. Christliche Freiheit ist eine Freiheit, die den Nachbarn und die Nächste nicht allein als Beschränkung der eigenen Freiheit wahrnimmt, sondern geradezu als Aufgabe. Aus christlicher Freiheit seine Nächsten zu lieben und ihnen zu dienen heißt, Verantwortung für sie zu übernehmen. Ja, es heißt, für ihre Freiheit Sorge zu tragen.
Solidarität und Freiheit, um deren Balance wir in diesen Zeiten kämpfen, sind so beileibe kein plumper Gegensatz, sondern Teile eines vertieften Verständnisses von Freiheit. In ihm werden negative wie positive Freiheiten vermittelt und andere Menschen nicht allein als Grenze, sondern als Grund und Aufgabe meiner eigenen Freiheit begriffen. Aus Freiheit und Verantwortung entsteht so die freiheitliche Gesellschaft als ein balanciertes “System gleicher Freiheiten” (Wolfgang Huber).
Freiheit wird ermöglicht in Gemeinschaft und realisiert sich in Gemeinschaft. Auch diesen Gedanken kennt unser Grundgesetz, etwa beim Gedanken, dass “Eigentum verpflichtet”. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist ein ausgewogenes und damit zukunftsfähiges Modell, das Freiheit mit Solidarität und Verantwortung verbindet. Das Bundesverfassungsgericht hat dies bereits im Jahr 1954 einmal festgehalten: “Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. […] Dies heißt aber: der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.” (BVerGE 4, 7). Quintessenz: Freiheit heißt nicht, einfach tun und lassen zu können, was man möchte, sondern die freien Bürger:innen tragen auch immer Verantwortung für das Gemeinwohl.
Am Ende ihrer Reise trennen sich übrigens die Wege von “Me and Bobby McGe”“. Für mich ist das die wahre Tragik und auch Botschaft dieses Songs. Sie verliert alles, was sie doch noch verlieren kann: ihren Geliebten, ihren Seelenverwandten. Er will sesshaft werden, ein Zuhause gründen, sie nicht. Und so machen sie sich wieder voneinander frei. Am Ende bleibt ihr Nichts von Bobby: Nothin’, and that’s all that Bobby left me. Am Ende ist sie zwar frei, aber allein. Einseitige Freiheit von stiftet eben keine verantwortlichen Beziehungen und auch keine tragende Gemeinschaft. Oder auch: Mit negativer Freiheit allein ist kein Staat zu machen.
Dr. Hendrik Meyer-Magister
Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz und Spiritual Care
Bild: Gedanken zur Freiheit – mit Blick vom Park der Akademie auf den See (Foto: hmm/eat archiv)
Kommentare