Urbanes

Zehn Ideen für die europäische Jugend

Dass die Idee Europa unter Druck steht, ist kein Geheimnis. Nicht zuletzt der Brexit verweist auf tiefere Probleme in der Europäischen Union. Um die Krise zu lösen, werden zurzeit in Brüssel und in nationalen Hauptstädten, in Think-Thanks, Stiftungen oder auch bei Protestmärschen Ideen gesucht oder vorgeschlagen. Digitalisierung, Innovation, mehr Mitspracherecht, Reform von EU-Institutionen, neue Staatsmodelle — es gibt viele Vorschläge. Ein Bereich wird jedoch oft unterschätzt oder wenn, dann nur mit einem Lippenbekenntnis gewürdigt: die europäische Jugend.

Auf Forschungsreisen konnte ich mich jungen Europäerinnen und Europäern in über 20 EU-Mitgliedsstaaten sprechen und von ihnen lernen. Ich habe erleben dürfen, welch Kreativität und Engagement in der jungen Generation für Europa vorhanden ist. Trotzdem werden junge Themen und Ideen oft nicht ernst genug genommen. Erstaunlich, denn gerade in der jungen Generation schlummert die Zukunft des Kontinents. Basierend auf diesen Erfahrungen kommen hier zehn konkrete Ideen, um Jugend in Europa zu fördern und damit ein besseres Europa für uns alle zu schaffen.

  1. Wahlalter ab 16

Wer junge Leute an Bord holen will, muss zuerst einmal jungen Leuten vertrauen — auch und gerade an der Wahlurne. Außer Österreich traut sich bisher noch kein Land. Und das, obwohl Jugendliche immer beweisen, dass auch sie verantwortungsbewusste, politische Entscheidungen treffen und belastbare politische Kräfte sein wollen und können. Das Wahlalter ab 16 hätte zudem eine nicht zu unterschätzende Symbolwirkung und große Antriebskraft, junge und zukünftige Generationen für mehr Europa zu begeistern.

  1. Bürgerschaftskunde in der Schule

Was bedeutet es überhaupt, Bürgerin oder Bürger der Europäischen Union zu sein? Welche Vorteile ergeben sich daraus, welche Rechte, welche Möglichkeiten und auch welche Pflichten? Antworten auf diese Fragen wissen nur die wenigsten. Das liegt auch daran, dass es in Schulen in der EU keinen einheitlichen Plan zur Erklärung dieser Grundfragen gibt — noch nicht einmal im Ansatz. Wie also sollen junge Leute Teil der EU und ihrer Zukunft sein, wenn wir noch nicht einmal ein Basiswissen rund um Bürgerschaft, EU-Programme, Wahlen und Demokratie vermitteln können? EU-Bürgerschaftskunde sollte an allen Schulen in EU-Mitgliedsländern durchgeführt werden.

  1. Englisch als (zusätzliche) Amtssprache

Unter jungen Leuten ist Englisch bereits die Lingua franca — wer von Spanien nach Lettland, oder von Dänemark nach Griechenland reist, spricht dort mit den Einheimischen oder anderen Gästen in fast allen Fällen Englisch. Das gilt ganz besonders für die junge Generation, die beim ERASMUS-Austausch, auf Instagram und Snapchat, oder auf der Ferienreise auf Englisch kommuniziert. Warum also das Ganze nicht offiziell machen und Englisch in jedem EU-Land als zusätzliche offizielle Amtssprache einführen? So können Formulare, Dienste und andere bürokratische wie gesellschaftliche Angebote und Verpflichtungen auch von denen genutzt werden, die die Landessprache (noch) nicht beherrschen. Ein echter Schritt in Richtung Integration.

  1. Ein EU-Bürger*innenkommissar

Viele junge Leute engagieren sich politisch außerhalb traditioneller Strukturen und Parteien — mit Kampagnen, Bewegungen oder zunehmend online. Gleichzeitig befindet sich die Zivilgesellschaft in Europa ordentlich unter Druck. Nicht nur in Ländern wie Ungarn werden freiem zivilgesellschaftlichem Handeln Riegel vorgeschoben. Der Atlas der Zivilgesellschaft zeigt hier ein düsteres Bild. Die EU sollte diese Form von Leben und politischer Aktivität schützen und dafür einen eigenen EU-Bürger*innenkommissar einführen. So kann Zivilgesellschaft besser geschützt und vertreten werden. Der Vorschlag in ähnlicher Form stammt übrigens von der österreichischen Europakennerin Verena Ringler.

  1. Ein EU-Jugendrat

Junge Leute sind in klassischen politischen Strukturen unterrepräsentiert. Daher werden in Parlamenten und Regierungen auch ihre Ideen und Perspektiven oft nicht ausreichend berücksichtigt. Warum also nicht einen EU-Jugendrat einführen, der EU-Parlament und EU-Kommission beraten kann? Vorbild: Irland Citizens′ Assembly, die sich zum großen Teil aus zufällig ausgewählten Irinnen und Iren zusammensetzt und Regierung und Parlament berät. Das Modell könnte gut auf EU-Ebene funktionieren, besonders die zufällige Auswahl junger Mitglieder wäre eine neue Form der Jugendrepräsentanz.

  1. DiscoverEU für alle

Ein Thema, das mir am Herzen liegt. Seit 2018 führt die EU ein Pilotprojekt durch, bei dem 18-Jährige kostenlos Europa bereisen, entdecken und erkunden können. So werden Vorurteile abgebaut, Horizonte erweitert und eine europäische Identität gestärkt. Das Programm basiert auf einem Vorschlag, den ich zusammen mit Martin Speer 2015 gemacht habe. Bisher konnten rund 50.000 junge Leute davon profitieren, auf Instagram und Twitter findet man unter dem Hashtag #DiscoverEU beeindruckende Beispiele der Kraft des Reisens. Doch da geht noch mehr. Die ursprüngliche Idee war, dass alle 18-Jährigen in der EU kostenlos reisen dürfen sollen — einen Monat per Interrail, Bus oder Schiff. Erst dann ist europäische Vielfalt eine echte Realität für alle jungen und zukünftigen Generationen.

  1. Echte Gleichberechtigung schaffen

Europa ist kein Kontinent der gleichen Chancen und Möglichkeiten für Frauen und Männer. Das stößt besonders vielen jungen Frauen bitter auf. In keinem EU-Land haben Frauen die gleichen Rechte und Perspektiven wie Männer. Besonders prekär: Gewalt und Zugänge zu Machtpositionen. Hier muss mehr getan werden. Warum nicht Islands Beispiel folgen und Ungleichbezahlung zwischen Frauen und Männern illegal machen? Oder Inspiration aus dem Vorschlag des deutschen Frauenrates ziehen und ein Wahlgesetz schaffen, das sicherstellt, dass in Parlamenten zukünftig 50 Prozent Frauen sitzen? Insgesamt müssen wir aber alle ran — ganz besonders Männer — um eine Welt zu schaffen, in der alle den gleichen Respekt und die gleiche Anerkennung erhalten.

  1. Vielfalt fördern

Die Lebensrealität vieler junger Europäerinnen und Europäer ist von hoher Vielfalt geprägt und unterscheidet sich damit oft von den Perspektiven der Elterngeneration. Alternative Lebensmodelle, kulturelle Vielfalt, unterschiedliche Sprachen, Hautfarben und Anschauungen sind unter jungen Menschen oft bereits gang und gäbe. Zwar gibt es hier Unterschiede je Mitgliedsland, aber der Trend ist klar: Für junge Menschen sind LGBTIQ*-, Frauen- und Minderheitsrechte und -fragen selbstverständlicher geworden. Dass die europäische Elite aber weitestgehend nach wie vor weiß, heterosexuell und männlich ist, stößt auf großes Unverständnis. Warum ist Macht nach wie vor so ungleich verteilt? Teil der Lösung muss sein, dass Männer, weiße Menschen und andere mit viel Privileg bereit sind, neue Perspektiven zu respektieren und auch einmal Platz zu machen. Zuhören kann hier ein wichtiges Stichwort sein.

  1. „The European Green Deal“ wirklich machen

Ursula von der Leyen hat den European Green Deal zur obersten Priorität gemacht. Mit Frans Timmermans wird einer der erfahrensten EU-Politiker mit der Umsetzung dieses Generationenunterfangens betraut. Das ist gut so. Damit das aber klappt, müssen gerade junge Perspektiven mit berücksichtigt werden. Warum also nicht die Leute an Bord holen, die Nachhaltigkeit und Klimarettung wieder groß auf unsere Agenda geschrieben haben: Fridays for Future sollte als Partner an Bord kommen und könnte so auch Zivilgesellschaft und die junge Generation mit etablierter Politik vernetzen.

  1. Eine Europäische Verfassung

Ist es wirklich verwunderlich, dass wir in Europa zuweilen das Gefühl haben, keine gemeinsame Richtung zu haben, wenn wir noch nicht einmal über eine gemeinsame Verfassung verfügen? Eine Verfassung ist mehr als ein legales Dokument. Sie ist ein Leuchtturm, ein Kompass, der gemeinsame Werte festlegt und damit gerade in schwierigen Zeiten für Orientierung und Klarheit sorgt. Genau das braucht Europa heute. Der letzte Verfassungsversuch ist Mitte der 2000er-Jahre gescheitert, der Prozess damals wurde als elitär und wenig transparent angesehen. Vielleicht ist es nun also die Aufgabe der jungen Generationen diesen Prozess neu anzuwerfen: partizipativ, frisch, digital und von gemeinsamen Werten getragen. Eine Verfassung für Europa könnte das neue Projekt der jungen Generation werden.

 

Der Aktivist Vincent-Immanuel Herr (*1988) ist Mit-Initiator der #FreeInterrailKampagne der Europäischen Kommission. Er schrieb das Buch „#TunWirWas. Wie unsere Generation die Politik erobert“.

Während der Tagung „#Junges Europa. We are one“ vom 18. bis 20.10.2019 an der Evangelischen Akademie Tutzing wird Vincent-Immanuel Herr über seine Leidenschaft für Europa und das Gelingen einer gemeinsamen Identität in Europa sprechen.
Weitere Informationen zur Tagung finden Sie hier:
https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/jungeseuropa-we-are-one/

 

Hinweis:
Vorliegender Beitrag ist zugleich Gastkolumne der Oktober-Ausgabe des Newsletters der Evangelischen Akademie Tutzing, der am 27. September 2019 erscheint. Nähere Informationen hier.

 

Bild: Vincent-Immanuel Herr (Foto: Anna-Zoë Herr)

Tags: , , , , ,

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Unsere Regeln zum Kommentieren finden Sie hier.

*