“Lisbonne est abîmée et l’on danse à Paris”, schrieb Voltaire 1756 in seinem “Poème sur le désastre de Lisbonne”. Es war seine Reaktion auf das Erdbeben, das im Jahr zuvor Lissabon erschüttert hatte. Studienleiter Dr. Jochen Wagner fragt sich angesichts Fußball-EM und Corona: Wie erlebt man Ungewissheit? Was macht ein Spieler, was ein Kranker?
Darf man’s so derb und ungeschminkt wie Voltaire sagen? Lissabon liegt nach einem Erdbeben im Abgrund, dieweil Paris im Tanzen rauscht. Mit uns heute kurz geschlossen: Die Welt taumelt vielerorts am Abgrund entlang und gleichzeitig tanzt Italien um den Siegerpokal der Fußball-Europameisterschaft: England ist Vize-Champion und statt football‘s coming home singt man football‘s coming Rome. Hie spannende EM-Spiele als coronafreundliche, euphorisch-surreale Gegenwelt zur Covid-Pandemie, dort täglich neue Infektionszahlen und weiterhin viel Leid, Not und auch Tod bei vielen Menschen. Hie Mythos Topform, der spielende Mensch, der homo ludens, born to perform, die Show des leiblich-unversehrten Athleten, dort sein Gegenbild, der verwundbare, kranke, sterbliche, leiblich-versehrliche Patient.
Antropologia gloriae versus theologia crucis? Zum Finale, weil die Uefa Geld brauchte, schlappe 65 000 Menschen im Londoner Wembley-Stadion Haut an Haut, bar jedweder Maske, Abertausende auf den Straßen tête-à-tête, in summa bei allen Spielen zusammen schier eine halbe Million potenzieller Corona-Multiplikatoren – halt, nein, waren ja alle erlesen und getestet. Doch der Schein trügt, was ja sein Wesen ist. Pokal oder Spital? Nein! Intensiv-Stadion statt Intensiv-Station. Bei so viel Verleugnung – beim Verdrängen von Covid 19 inkl. Delta-Mutante muss man immerhin noch Abwehrkraft aufwenden – sind alle gaga. War was? I wo. Droht eine 4. Welle? Quatsch. Und so ballten sich rund um den Fußball die Antinomien einer hitzigen Gesellschaft des Spektakels (1967), wie Guy Debord die entzauberte Sociéta voll süchtiger Spieler nannte, zusammen. Nicht, weil Corona vorbei wäre, sondern damit es so aussehe, marschierte ‘Europa’ jubilatorisch in die Retromania. Dank König Fußball wurde die schon verklärte Normalität v o r Corona nun – renew! – als neue alte Ordnung ausgelobt.
Galt diese von der Uefa profitabel ambitionierte Geste zwar nur oberflächlich dem Hochamt des Sports, englisch disport, das heißt dem Vergnügen, lässt sich damit semantisch an den philosophischen Diskurs der Moderne anschließen. Vom Wahren Guten Schönen, in sich konvertibel gedachter Transzendentalien, Gottesprädikate aus, entwarf Immanuel Kant seine drei Vernunftkritiken. Die dem Schönen gewidmete Kritik der ästhetischen Urteilskraft (aus dem Wahren reformulierte er Die Kritik der reinen Vernunft, dem Guten Die Kritik der praktischen Vernunft. Bestimmte das Schöne als das, was interesselos wohl gefalle und: vergnüge! Und zur ästhetischen Urteilskraft rechnete Kant auch die Frage, was wir hoffen dürften. Damit sind wir mitten im Plot. Das Vergnügen just for fun bildet denn den Antipoden zum Leiden. König Fußball versus Corona. Ungewiss sind beide: Spiel wie Infekt, Jubel oder Klage, Lied wie Leid.
Von der Gewissheit göttlicher Vorsehung zum ungewissen Schmied eigenen (Un-)Glücks
“Am guten Tag sei guter Dinge und am bösen Tag bedenke, diesen hat Gott geschaffen wie jenen, damit der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist. (…) Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit” (Prediger Salomo 7, 11.16.17)
In der alttestamentlichen Weisheit des Quohelet ist Kontingenz, Zufälliges, Gutes wie Böses noch als Gabe Gottes gedacht. Dennoch ist das darin inbegriffene Nichtwissen des Zukünftigen nicht einfach nur als ein widerfahrendes Geschicktes, sondern auch als partiell gestaltendes Geschick/Geschicklichkeit konnotiert. Immerhin konnte bzw. kann man biblisch noch mit Gott als Stifter von Kontingenz kommunizieren, danken, hadern, beten, reklamieren. Und noch heute findet eine Außenvergewisserung des Einzelnen durch soziale Netze, kollektive Körperschaften, Arbeits- und Freizeitwelt(en), Milieus, Merkwelten, Mentalitäten und Routinen statt. Zugleich kompiliert und konsumiert der/die Einzelne in einer Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne (Andreas Reckwitz, 2017) aus Poly-, Multi- und Pluri-Optionen seine Identität. Diese Selbst- oder Innenvergewisserung weist zwar Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung (Andreas Reckwitz, 1995/ 2014) aus. Zeigt aber vielfach Phänomene der Überforderung, demnach Das Unbehagen in der Gesellschaft (Alain Ehrenberg, 2011) vielfach Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart (ders., 1998) gebiert.
Der Wunsch nach Reduktion permanenter Unübersichtlichkeit und Entschleunigung beschleunigter Innovations- und Enttraditionalisierungsdynamiken wird sichtlich von drastisch simplifizierenden politischen Populisten bedient. Die von Hannah Arendt prominent gemachte Vita activa oder Vom tätigen Leben (1981) bricht sich gleichviel in einer vita passiva, eben kaum oder gar nicht Autor oder Poet seiner eigenen Augenblicke zu sein. Tritt damit an die Stelle gottgegebener Ordnungen und Stände wie Identitäten samt einer von der theologisch Dogmatik verbrieften Verheißung einer heilsfinalen providentia Dei, einer unverlierbaren Heilsvorsehung bzw. Heilsgewissheit, der certitudo, unter einem leeren Himmel purer Kontingenz o h n e einen personifizierten Stifter entweder ein vergesellschaftetes oder heroisch sich selbst entwerfendes Selbst? Was kommt, mir unvordenklich zufällt, das wären also beliebige Optionen einer unpersönlichen Willkür: Man hat halt Dusel oder Pech. Zur Fußball-EM will es dann der Zufall, dass mir König Fußball versus Corona – wozu man gern das Oppositionspaar Sammlung & Zerstreuung zu Rate zieht – die Frage bescherte, wie erlebt man jeweils Ungewissheit – was macht ein Spieler, was ein Kranker? Kann, wenn ja, was, ein Einzelner tun? Ist der Spieler nur Täter, der Kranke nur Opfer – also eine Matrix aus Agent und Patient? Jedenfalls sind beide Typen in Geschicktem und Geschick Einzelne wie Philipp Sarasin in seinem grad eben erschienenen Buch 1977 Eine kurze Geschichte der Gegenwart (Berlin 2021) entfaltet, Kann man mehr ein ungewisser Einzelner werden als im Elfmeterschießen oder bei Krankheit?
Elfmeterschießen
Pah, wie ging das an die Nerven. Aber war die Spannung, dass völlig ungewiss sei, wer gewönne, nicht grad das gewünschte Narkotikum? Wenn es etwas quasi Rätselhaftes, in seiner Gleichzeitigkeit empörend Groteskes, obszön Paradoxes gab, dann doch diese Konstellation: Während der Sorglose die Ungewissheit über das Ergebnis des Ausgangs des Spiels euphorisch genoss, war beziehungsweise ist für den kranken Menschen der völlig ungewisse Ausgang des eigenen Lebensspiels die reinste Hölle. Und je nach Verlauf kann eine Covid19-Infektion sehr böse ausgehen; mit Kierkegaard gesprochen, auch als eine Krankheit zum Tode. Insofern ging das Elfmeterschießen besonders an die Nerven. Allein schon das Zuschauen, dieses ultimative Entweder-Oder – eine Qual. Hie die Angst des Schützen: Trifft er oder trifft er nicht? Dort die Angst oder Gelassenheit des Torwarts: Hält er oder hält er nicht? Das heißt Druck Druck Druck und nochmals Druck. Druck ist Gewicht durch Auflagefläche? Dann lasten Tonnen auf den Schützen. Druck ist aber auch ein Ansaugvakuum. Wer verschießt, fühlt sich, als würde sich die Erde auftun und ihn verschlingen. Es ist eben dieser Druck, der aus der coolen Routine im Training, in der der Torwart meist null Chancen hat, eine Extremsituation macht. Wo man, wie es die exzentrische Positionalität nennt, vor Aufregung ganz außer sich ist und vor Verantwortung ganz bei sich sein muss. Eine Sekunde trennen Schuss wie Parade von Himmel oder Hölle. Nirgends wird Sepp Herbergers Bonmot wahrhaftiger: Fußball sei deswegen so beliebt, so spannend, so unersättlich anziehend, weil niemand wisse wie es ausgehe. (Mit dem Philosophen Hans Blumenberg könnte man hier eine Reflexion einschieben: Nur der liebe Gott wisse im Voraus, wie es am Ende stünde, weswegen manche Fans wahrlich beten würden; freilich beten auch die rivalisierenden Fans und abgesehen davon, dass der liebe Gott, würde er sich einmischen, ja parteilich sein müsste, also pro die einen Fans, contra die anderen Fans, müsste Gott, wenn Er die alles bestimmende Wirklichkeit wäre, zum antizipierenden Wissen, wie’s ausgeht, zugleich auch – wie wir, also uns gleich – auch das Nichtwissen in seinem Portfolio in sich tragen. Als deus simplex müsste Gott gleichsam Gewissheit u n d Ungewissheit in sich implementieren). Jedenfalls stellt der Elfmeterschütze ein Paradebeispiel des einsamen Akteurs in einer extremen Ausnahmesituation dar. Er muss sich quasi mit dem Habitus seines leibhaften, aus Erfahrung und Training gewonnenen Können die absolute Ungewissheit einverleiben, wie Pierre Bourdieu in Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (1997) die körperliche Erkenntnis (beim Fußball der seltene Fall einer Beinarbeit) betont.
Mit dem Schlusspfiff ist nix mehr ungewiss, sondern alles gewiss.
Das Fußballspiel ist nun ein absolutes Modell der Transformation, der Verwandlung malträtierender Ungewissheit in finale Gewissheit. Denn es wird in 2 x 45 Minuten dauernden Halbzeiten, 2 x 15-minütigen Nachspielzeiten und eben dem Elfmeterschießen so lange gespielt, bis das finale Ergebnis vorliegt. Nirgends jedenfalls berühren sich die Extreme so hochexplosiv spannungsgeladen, wie beim shoot down aus elf Metern vor dem beziehungsweise im Tor. Ob jeder Schütze sein Konzept hat, wie er anläuft und wohin er schießt? Also von innen nach außen konzipiert, was er nach dem Pfiff des Schiris ausführt? Dass er wie eine Art akutisierte Substanz seine lang schon geplante Idee ausführt, egal wie der Torwart herumhampelt? Oder je nach des Torhüters Sperenzchen diese Idee im Nu verwerfend spontan eine neue Idee in actu verwandelt. Es gibt Typen, und man hat sie in zig Elfmeterschießen bei dieser EM erlebt, die als coole Subjekte erfolgreich, also ohne Firlefanz, betörend selbstsicher und ihres Könnens inne, den Ball in die Maschen hauen – etsi Torwart non daretur. Sie verkörpern quasi ein idealistisches Modell, demnach ich als Schütze, als Macher, griechisch poiein, also der Poet meines Augenblicks wäre: Mein Wille paart sich mit der Macht meines Könnens und der Widerstand in Gestalt des Torhüters ist mir schnuppe, denn er hat eh eine Chance.
Auch auf die Gefahr hin, dies Gleichnis zu überfrachten, sei doch an ein Konzept erinnert, das den Sieger, den Gelinger, den Helden im Blick hat: Johann Gottlieb Fichte hat in Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (Jena und Leipzig 1798) dieses heroische Ich, das sein Selbst wie seine Welt autonom aus sich heraus entwirft, umrissen. Sein Selbstbewusstsein ist Wirkungsbewusstsein und das absolute Ich wirke auf die Sinnenwelt. Freiheit sei dabei die sinnliche Vorstellung der Selbsttätigkeit und sie realisiere sich in Wirkung auf die Körper- und Dingwelt, schließlich als absolute Unabhängigkeit. Salopp formuliert: Fichte hat ein Bild von sich als sich selbstsetzenden Souverän, der keinen Elfmeter verschießt. Unser aller letztes Ziel reiner Selbsttätigkeit vollende sich darin, dass alles abhängig sei von mir und ich wiederum von nichts und dass in meiner ganzen Sinnenwelt alles so geschehe, weil und wie ich es will: “Also muss die Welt mir werden, was mir mein Leib ist” – bloßes Mittel, “selbst Gott zu werden” (ebd. I.2, 390ff und 690ff). Doch verfügen selbst die coolsten Vollstrecker wirklich in solider Stetigkeit über diese Form absoluten Könnens?
Der Umkehrschluss liegt nahe. Ohne Plan, konzeptionelle Idee, bleiben Instinkt, Intuition, also pure Improvisation. Damit müsste ich quasi poly- oder pluri-potent erst in actu zum Vollzugsinstrument der sich erst Aug in Aug mit dem Torhüter in mir bildenden, sich meiner bemächtigenden Idee werden. Als würde mich die Konstellation zu jemandem machen, der sich so noch nie kannte bzw. also mein Selbstbild ein Fremdentwurf wäre. Wie und wohin ich schieße, würde sich erst aus der allmählichen Verfertigung meines Elfmeters ergeben. Nicht mein Ich, mein Denken oder Wollen, sondern die Konstellation würde mich (Heinrich von Kleist meinte: es ist der Zustand, der mich/uns weiß) im Tun als denjenigen generieren, also hervorbringen, den ich vorher nicht hätte denkend konzipieren können. Im Anlauf und Schwungholen mit dem Bein würde sich qua Rezeption des Moments eine mir selber unbekannte, intuitive, instinktive Schuss-Handlung aus meines motorisch-mechanischen Leibesvermögens entäußern und ich würde wie in Trance unvordenklich treffen. Oder eben auch nicht! Vielleicht werde ich ein Loser, wie einst Uli Hoeneß, der die Lederkugel über das Tor in den Prager Himmel drosch.
Den Spitzenfall stilistischer Sprezzatura, also ultimativer Leichtigkeit zelebrierte freilich in genialischer Perfektion der Fußball-Zauberer Panenka‘. Er mimte einen stürmischen Anlauf und schien voll ausholend auf den Ball hauen zu wollen. Doch abrupt verzögerte er, sah den Torwart in eine Ecke hechtend, um dann den Ball unter dem ohnmächtigen Blick des Torhüters gelupft wie einen Ballon schwebend in der Tormitte dezent landen zu lassen. Happyend.
Das Desaster: verschießen.
Und dann ist es doch anders, als Fichte denkt, oder man selber, wenn man einen ‘Elfer’ schießen soll, sich vielleicht noch freiwillig gemeldet hat, oder wie die drei jungen Burschen der englischen Nationalmannschaft: Ihr Trainer hatte sie, 21, 22 und 23 Jahre alt, noch kurz vor Ende der Verlängerung eingewechselt, w e i l sie als hochtalentierte Jungprofis und ausgezeichnete Elfmeterschützen galten. Doch kann man ohne nennenswerte Bindung zum Spiel, noch dazu zu s o einem Spiel, dem EM-Finale, wenn nicht ein absoluter Souverän, wenigstens mit sich halbwegs im Reinen seiender Spieler, wirklich in diesem Elfmeterschießen punkten?
Es scheint, dass wohl der Druck zu groß und das Selbstbewusstsein zu klein waren. Statt routinierter Performance, schien bei den jungen Elfmeterschützen der Faden irgendwie gerissen. Das Ergebnis ist bekannt: die Fehlschützen mussten sich, trotz einer Welle aus Trost, Zuspruch, Geborgenheit und Solidarität wüsten rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt erleben. Einer der drei unglücklichen Fehlschützen gestand, dass er “wohl mit einem Mangel an Selbstvertrauen in dieses Finale” gegangen sei. “Ich hatte bei Elfmetern immer großes Zutrauen zu mir selbst, aber etwas fühlte sich nicht ganz richtig an. Auf dem Weg zum Ball nahm ich mir ein bisschen Zeit, unglücklicherweise erziele ich nicht das Ergebnis, das ich wollte.” Er fühlte sich dann als Versager, habe die Mannschaft im Stich gelassen … (Marcus Rushford, 23 Jahre, in: “Ich werde stark zurückkommen”, FAZ, Mittwoch, 14. Juli 2021, Nr. 160, S. 28, Sport). Da war wohl Wille, aber ohne Macht, da war wohl Gehorsam gegenüber dem Trainer, aber ohne Spielpraxis kein Gefühl, da war wohl unendlicher Druck, aber kein fichteanischer Mumm des kaltblütigen Vollstreckers. Urplötzlich war alles ungewiss und der Selbstzweifel nagte unbewusst am Jungstar. Es ist also mitunter im Bruchteil einer Sekunde höchst wie zutiefst ungewiss, wer das Subjekt der Ball-Aktion ist. Und wenn schon ‚der Elfer‘ im Spiel unfassbaren Druck schafft, obwohl ein Fehlschuss noch in der Spielzeit korrigiert werden kann, dann potenziert das Elfmeterschießen den Elfer damit zur Carl Schmitt’schen Maxime: Souverän ist, wer im Ausnahmezustand entscheidet. Das, was Mihály Csíkszentmihály mit Flow als Geheimnis des Glücks bezeichnet, scheint eine Kompaktheit mit mir selbst, eine Hingabe ans Tun und zugleich eine anti-grüblerische Selbstvergessenheit zu sein.
Solches Versunkensein in fokussierte Intensität (Pablo Morales, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports, Ffm 2005) stellt sich als Auftragsgehorsam gegenüber dem Trainer halt nicht auf Knopfdruck ein. Da ist es besser, sich rotzfrech wie Neeskens 1974 einen Scheiß um den Torwart zu kümmern und das Leder unbekümmert und mit Verve in die Tormitte zu knallen, oder wie Paul Breitner den Schlussmann ‚auszuschalten‘ und die Kugel akkurat flach ins linke Eck zu schussern. So oder so: Wer die paar Meter, den kurzen, unendlich lang erscheinenden Anlauf schafft (ähnlich paradox ist das 112m x 78m limitierte Geviert zugleich der unendliche Raum), bis dann der Schuss “fällt”, wird aus grausamer Ungewissheit nie mehr revidierbare Gewissheit (es sei denn, der Schiri entscheidet auf Wiederholung): was komplett offen war, ist nun total abgesch(l)ossen. In alle Ewigkeit. Und doch macht die Ungewissheit, wie das Spiel, respektive das Elfmeterschießen ausgeht, diese Rauschdroge, so etwa Tristan Garcia, Das intensive Leben (Berlin 2017) aus. Sport Spiel Spannung hieß denn in meiner Kindheit eine von Klaus Havenstein moderierte Fernsehsendung. In summa: Im Spiel ist die Ungewissheit ein Vergnügen, ein Stimulus zu Hochgefühlslust, zu fiebriger Ekstase, zur Kommunion mit geliehener Grandiosität von den siegreichen Helden oder Stars. Gleichviel ist im Spiel der Fehler letztlich völlig normal. So fallen höchstes Können und unvordenkliches Versagen in eines: Spielen, Fußball zumal, gibt es nicht ohne ein Lob der Imperfectio. Und als Lob der spontanen Kreativität, des gefühlten Wissens, des tacit knowledge: “Es gibt antiparastatische Genies, die erst in der Klemme am besten wirken: sie sind eine Art Ungeheuer, denen aus dem Stegreif alles, mit Überlegung nichts gelingt.” (Balthasar Gracian, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, 1653ff, Aphorismus 56, Geistesgegenwart).
Kontingenz und Einsamkeit
Was aber ist nun – in diesem Modell fichteanischer Grandiosität versus allzumenschlicher Banalität des Scheiterns – Corona? Ist es eine Hyperkontingenz, ein Fatum, also Schicksal, oder ein blöder Zufall? Zumindest erscheint es vielen – den Leugnern und Verschwörungsaposteln vielleicht nicht – als Heimsuchung, als Gefahr, als unvordenkliche, unsichtbare Bedrohung. “Da kann man nix machen – es erwischt einen oder nicht”. Die Gnome der Gasse schwanken mit Corona zwischen malum naturale, Naturübel, und malum morale, Menschen gemachtes Übel (Labor, Verletzen der Naturschranke) – also nicht nur eine höhere Gewalt, sondern durchaus eine Resultante, ein Feedback auf unsere Eingriffe und Interventionen in die beziehungsweise der Natur. Strapaziert man mit dem Gleichnis Fußballspiel beziehungsweise Elfmeterschießen den Covid19-Komplex, so sind wir metaphorisch eher der Torwart, der die Geschosse und Projektile des Schützen Corona abzuwehren, seinen Kasten sauber zu halten versucht. Phänomenologisch empfinden wir uns aber eher als Patient, als Opfer von Corona, denn als Agent, als autonomer, überlegener Souverän. Wir spüren die Freiheit, frei zu sein, so Hannah Arendt, aber wir fürchten zugleich die Furcht vor der Freiheit, so Erich Fromm. Zudem ist die große Differenz zwischen Fußballspiel und Corona, dass ich auf dem Fußballplatz Co-Autor meines Spiels, wie gesagt Poet meiner Augenblicke bin, bei Corona hingegen ist mein Körper nicht mehr Instrument meines Handelns, sondern das umkämpfte Spielfeld, der Schauplatz des ‚Elfmeterschießens‘ selber.
Covid19 als Krankheit ist eine Wahrheit des Körpers sowie im Umkehrschluss Gesundheit das Leben im Schatten schweigender, d.h. tüchtiger, intakter Organe ist, wie das der französische Philosoph Georges Canguilhem in Gesundheit – eine Frage der Philosophie (Paris 1988/Berlin 2004) entfaltet. Dass also mein Leib unmitttelbar als handlungsmächtiges Instrument u n d Schauplatz von Gewissheit und Ungewissheit in den Blick kommt, mag der Moderne geschuldet sein, die religionskritisch eine metaphysische Gewissheit, die certitudo, die göttliche Heilsgewissheit im Unterschied zur menschlichen, daher trügerischen securitas, der Sicherheit, nurmehr als soziales Artefakt denken kann. Unter der Annahme nachmetaphysischer Ungewissheit im Sinne transzendentaler Obdachlosigkeit bleibt uns eine ausweglose Immanenz als Spielfeld, unser Spiel zu spielen. Voll Angst und Ohnmacht kann ich nicht auf mein Können, meinen Habitus an Potenzialen zurückgreifen, sondern muss mich auf Hilfe angewiesen anderen Menschen, Ressourcen und Techniken anvertrauen. Immerhin hat Corona überwältigende Solidaritäten gezeigt. Man muss sich in die Hände anderer begeben, ohne von ihnen, oder den Göttern in Weiß, eine gottähnliche Verheißung zum heilen Happyend auferlegen zu können (vgl. dazu Jochen Hörisch, Hände. Eine Kulturgeschichte, 2021). Wie im Mannschaftssport Fußball kann man immerhin sagen, dass es eine Teamkooperation, ja eine Inteam-Leistung, eine soziale Praxis ist. Man lernt ganz automatisch durch das bloße Spielen, sich Geborgen im Ungewissen zu fühlen, wie das Pablo Picasso über das Suchen assoziiert hat – bekanntlich mit dem euphorisch-dialektischen Bonmot „Ich suche nicht, ich finde: Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem. Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die im Ungewissen sich geborgen wissen. Die in der Ungewissheit der Führerlosigkeit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“
Bei Augustin heißt es: “Unruhig ist unser Herz, bis es ruht, Gott, in dir.” Lässt sich solch semantisches Potenzial metaphysischen Vergewissertseins säkularisieren, ohne jetzt etwa die profane Transformation eines himmlischen Schutzengels in einen Schutzmann hienieden dezent albern einzubringen? Oder sind es gerade die liturgisch inszenierten Events, in denen nicht nur – neben Sozialem oder Kriegen – hochkomplexe Gesellschaften ihre Überschuss-energien abfackeln (Georges Bataille, Der Begriff der Verausgabung, Paris 1933 bzw. ders. Die Aufhebung der Ökonomie, Paris 1967/München 1985), sondern eine Logik der Anerkennung praktiziert wird: Konkurrieren heißt im Sport kooperieren, und vice versa. Competition heißt nach dem lateinischen cumpetere gemeinsam etwas bestreben, erbeten, beten – sich selbst also im Anderen zu vergewissern. Man kann nur miteinander gegeneinander spielen. Das Minimum an Fairplay sowie das Erleben diversen Könnens oder spezifischer Talente und gleichviel diverser Schwächen und Defizite führt für mich unweigerlich zu diesem Kleinen Einmaleins: Keiner kann alles / Niemand kann nix / Jeder kann etwas / Was ich kann gehört dem Team / Was mein Mitspieler nicht kann, verpflichtet mich / Gemeinsam gewinnen und verlieren / Gemeinsam lachen und weinen / inteam zusammen halten.
Solch ein Paralleluniversum kann man eine ästhetische Erziehung des Menschen heißen, denach, so Friedrich Schiller, der Mensch nur spielt, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er nur da ganz Mensch ist, wo er spielt. Im Spiel erfährt sich unweigerlich Jeder als Nicht-Gott, auch ein Maradona oder Pelé nicht, sondern als e i n e spezielle Figur in einem Ensemble: Niemand ist der absolut freie Alleskönner, sondern wir alle sind völlig unfrei, was unser Kommen und Gehen anbelangt, und dazwischen relativ frei, dies zu tun, jenes zu lassen. Friedrich Schleiermacher hat in seiner Lehre Der christliche Glaube diese unabänderliche absolute Unfreiheit samt zugleich relativer Freiheit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt. Die EM war – trotz Corona – auch ein Fest der Solidarität und der Fairness: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ (Che Guevara). Trotz aller destruktiven Exzesse des Profifußballs.
“Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.” So schreibt Paulus an die Römer (8, 38ff).
Mag sein, dass solche certitudo nur noch beim Elfmeterschießen angerufen wird. Mag sein, dass weder Uefa noch sonst wer erinnerten, dass der Regenbogen zuallererst das alttestamentliche Bundeszeichen war, dass Gott keine Sintflut mehr über die Welt schicken würde. Evident ist, wie Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt (2015) zeigt, dass in der Moderne weder von Ruhe noch Gewissheit die Rede ist. Es bleibt einzig statt einem ewigen Leben das Jetzt, französisch maintenant. Wenn Gaetano Veloso im Londoner Exil bei einem Spaziergang 1972 im Song Nine out of Ten singt “I’m alive”, dann, so Diedrich Diedrichsen, Über Popmusik, (2014, 364), ist, wo Religion war, nun Pop: gewiss ist einzig der Augenblick: now. Immerhin: singt die Jugend, swingt der Pop, “Football‘s coming home, football’s coming Rome”.
Dr. phil. Jochen Wagner, Studienleiter für Theologie und Gesellschaft, Religion, Philosophie und Recht
Foto: dgr/eat archiv
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