Weibliche und männliche Körper sind nicht nur biologisch unterschiedlich. Die verschiedenen Geschlechter kommunizieren auch anders und haben andere Informationsbedürfnisse. In der Medizin kann das fatale Folgen haben. In diesem Gastbeitrag, schreibt Hildegard Seidl, Expertin für für Gendermedizin und -pflege, warum wir eine geschlechterspezifische Kommunikation zwischen Ärzt:in und Patient:in brauchen.
Von Hildegard Seidl
Eine Frau hat einen Druck über der Brust, Atemnot, Übelkeit und große Müdigkeit. Ihr Mann erkennt intuitiv einen Notfall und möchte den Notarzt rufen. Die Frau möchte jedoch noch abwarten und nicht ins Krankenhaus. Ihr Mann sagt: “Wenn Du meinst, dann warten wir noch.”
Ein Mann hat einen Druck über der Brust, der sich bei Belastung weiter verstärkt. Seine Frau erkennt den Notfall und möchte den Notarzt rufen. Der Mann möchte jedoch noch abwarten und nicht ins Krankenhaus. Seine Frau sagt: “Auf keinen Fall, ich rufe jetzt sofort den Notarzt.”
Es hat eine lange Tradition, dass Frauen die Care-Arbeit in der Familie übernehmen, was dazu führt, dass ihnen diese Aufgabe auch übertragen wird. Es wird vermutet, dass genau diese Kompetenzzuschreibung dafür verantwortlich ist, dass Frauen, die in einer Partnerschaft leben, später als die in Partnerschaft lebenden Männer mit einem Herzinfarkt in die Klinik kommen. Hier wird die jahrelange Kompetenzzuschreibung so gelebt, dass die Frau sicher und unbeirrt agiert und der Mann bei dem Einspruch der Frau sofort unsicher wird und sein Vorhaben erst einmal aufgibt.
Viele Studien haben gezeigt, dass Patientinnen und Patienten unterschiedlich kommunizieren und unterschiedlichen Informationsbedarf haben. Frauen legen häufiger Wert auf genaue Information über ihr Krankheitsbild und mögliche Therapieoptionen. Männer sind pragmatischer, wollen Hintergrund und Wirksamkeit von Medikamenten oftmals nicht wissen und zermartern sich nicht den Kopf darüber.
Versorgungunterschiede hinsichtlich verschiedener Erkrankungen
In den letzten Jahren haben Studien für Aufsehen gesorgt, die herausgefunden haben, dass Frauen durch Ärztinnen manchmal besser versorgt werden als durch Ärzte – bei Männern sich jedoch kein Unterschied feststellen lässt.
Es gibt internationale Studien über die operative Versorgung und die Versorgung nach Herzinfarkt – beide mit dem Ergebnis, dass das Überleben von Frauen, die von einer Ärztin versorgt wurden, höher ist als wenn sie von einem Arzt versorgt werden. Männer werden jedoch gleich gut versorgt. Das lässt viel Spielraum für Erklärungen, da die Gründe nicht erhoben wurden. Eines konnten die Studien jedoch weitgehend ausschließen: Ärzte bekamen nicht die schwerer erkrankten Patientinnen zugewiesen. Also bleibt, dass entweder Ärztinnen Patientinnen besser therapieren, weil sie fachlich überlegen sind oder weil Ärztinnen besser kommunizieren, die Patientinnen ernster nehmen, dem Gespräch mehr Zeit einräumen und die aufgekommenen Fragen genauer beantworten. So kann es sein, dass die Schwere der Erkrankung besser eingeschätzt werden kann, die jeweilige Therapie früher erfolgt und auch postoperativ schwerwiegende Komplikationen schneller erkannt werden.
Auch bei chronisch Kranken zeigen sich Unterschiede. Bei Diabetes-Patientinnen etwa, die von Ärztinnen betreut werden, findet sich ein besser eingestellter Langzeitblutzucker. Wie lässt sich das erklären? Keiner wird doch annehmen, dass Ärzte Frauen einfach nicht adäquat versorgen, weil sie Frauen sind, oder? Ich denke das jedenfalls nicht. Aber es kann nicht schaden, eigene Rollenbilder zu hinterfragen und sich einzugestehen, welche Patient:innen ernster und weniger ernst genommen werden. Nur so kann das Verhaften in bestimmten Rollen aufgebrochen und geändert werden.
Versorgungunterschiede aus Patient:innensicht
Betrachten wir das Ganze aus Patientinnen- und Patienten-Sicht: Frauen sind häufiger nicht leitliniengerecht versorgt, was die Krankheiten Bluthochdruck und Hypercholesterinämie betrifft. In der Literatur finden sich Hinweise, dass die Ursachen für diese Unterversorgung vielschichtig sein können.
Zum einen sind Frauen häufiger die skeptischeren Patientinnen. Das führt dazu, dass Therapien – besonders blutdruck- und cholesterinsenkende – kritisch hinterfragt werden. Wenn Ärztinnen und Ärzte diese Bedenken nicht genügend adressieren, dann fühlen sich Frauen nicht ernst genommen, verlieren das Vertrauen und setzen die Medikation ab.
Zum anderen bekommen Frauen und Männer meist die gleiche Dosis dieser Medikamente, wodurch bei Frauen vermehrt Nebenwirkungen auftreten. Wenn die Kommunikation zwischen Ärzt:in und Patientin gestört ist, dann ist es wahrscheinlicher, dass Frauen die Medikamente absetzen und nicht mehr in die Sprechstunde gehen. Im besseren Fall gehen sie noch einmal hin und berichten von den Nebenwirkungen – mit dem Ergebnis, dass das Medikament daraufhin reduziert oder gewechselt wird. Für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Ärzt:in und Patientin ist es jedoch unabdingbar, diese Maßnahmen gut zu erklären. Darüber hinaus gibt es genug Belege aus der Forschung, dass diese Medikamente bei Frauen niedriger dosiert werden sollten – sprich: Man sollte mit einer geringen Dosis beginnen, die Patientinnen zur Überwachung anleiten, sie wieder einbestellen und dann das weitere Vorgehen besprechen. Wenn am Anfang eine solche partizipative Entscheidungsfindung steht, dann ist es wahrscheinlicher, dass alle (Frauen und Männer) therapietreuer sind.
Sprechen rettet Leben – vor allem das der Frauen
Die sprechende Medizin wird leider nicht ausreichend vergütet. Oft ist eine angemessene Kommunikation aber keine Frage der Zeit, sondern eine Frage der Wahrnehmung. Ich möchte alle Geschlechter dazu ermutigen, ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Ärztin, ihrem Arzt zu pflegen und sich nicht entmutigen zu lassen, auch wenn nicht gleich alles optimal zu sein scheint. Scheuen Sie sich nicht, alle Fragen vorab aufzuschreiben und diese gemeinsam abzuarbeiten. Das spart Zeit, strukturiert den Praxisbesuch und vor allem: Sie vergessen nicht, die Ihnen wichtigen Fragen zu stellen.
Appell an die Politik
Die sprechende Medizin muss besser vergütet werden, nur so können engagierte Ärztinnen und Ärzte genügend Zeit aufwenden, Patient:innen ausreichend zu informieren und die Therapietreue bei Patient:innen zu verbessern.
Die Gendermedizin muss in den Fokus der Politik kommen. Dass Studien bereits in der Planungsphase eine geschlechterbezogene Auswertung mitberücksichtigen, sollte gesetzlich vorgeschrieben werden. Nur dadurch kann eine ausreichende statistische Grundlage geschaffen werden, um diese Studien in Leitlinien zu berücksichtigen. Darüber hinaus stehen Forschung und Lehre in enger Beziehung. Somit wird sichergestellt, dass alle in der Forschung tätigen Personen die geschlechterspezifischen Aspekte Medizin berücksichtigen und sie in die Lehre integrieren.
Über die Autorin:
Dr. Hildegard Seidl ist Humanbiologin und Gesundheitsökonomin und als Fachreferentin für Gendermedizin und -pflege der München Klinik tätig.
Hinweis:
Vom 24.-26. Januar beschäftigen wir uns auf der Tagung “Gesundheit und Geschlecht: anders krank sein – ungleich behandeln” ausführlich mit dem Thema Gendermedizin. Die Tagung leitet Dr. Hendrik Meyer-Magister von der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit Dr. biol. hum. Hildegard Seidl und Prof. Dr. med. Robert Ritzel – beide von der München Klinik.
Alle Infos zum Programm der Tagung und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.
Bild: Hildegard Seidl (Foto: privat)
Kommentare