Das Coronavirus strapaziert nicht nur menschliche Körper, soziale Gemeinschaften und das Gesundheitswesen, es stresst auch unsere Debatten, meint Studienleiter Frank Kittelberger. Wichtige Themen stehen momentan im Fokus. Entscheidend wird aber sein, wie wir über die Krise hinaus damit umgehen.
Die gegenwärtige Krise um den Ausbruch des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 und die in seiner Folge auftretende Lungenkrankheit Covid-19 dominiert unseren Alltag. Viele Menschen weltweit sind erkrankt, die Zahl der Todesfälle nimmt zu. Dieses Virus und die Krankheit beschädigen und stressen nicht nur menschliche Körper, sondern auch soziale Gemeinschaften und Einrichtungen des Gesundheitswesens. Sie stressen und schädigen jedoch zusätzlich unsere Debatten. So werden wir täglich mit Virologinnen und Virologen aus bundesdeutschen Kliniken konfrontiert, die in Talksendungen, wissenschaftlichen Beiträgen und quer durch alle Medien ihr Wissen mitteilen. Man könnte gegenwärtig den Eindruck gewinnen, dass sie wahlweise behaupten, sie wüssten alles oder man könne gar nichts vorhersagen. Dementsprechend passiert zweierlei:
Unser Fokus wird auf abstruse und je nach persönlicher Sympathie hoffnungsvolle oder historische Szenarien gelenkt. Die Unsicherheiten werden verstärkt durch die immer offensichtlicher werdenden politischen Interessen, die hinter diesem oder jenem Szenario stecken. Gleichzeitig wird jeder und jede von uns mittlerweile irgendwie zum Hobbyvirologen und baut auf das, was er oder sie hier oder da gelesen oder gehört hat. Harald Lesch bemühte sich in einer Fernsehsendung, die Wichtigkeit von Fakten zu betonen und lobte die Wissenschaft, die der einzige Weg zu validen Fakten und sicherer Erkenntnis sei. Das war gut gemeint, hat aber den Widerspruch all derer hervorgerufen, die sich ihrerseits auf eigene Erkenntniswege berufen.
Wir können uns jetzt nicht einfach zurücklehnen und aus der jeweiligen Filterblase heraussuchen, was uns passt. Wir müssen weiterhin auf Evidenz setzen und jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertrauen, die mit Sorgfalt und im uneigennützigen Austausch (also auch ohne Profilneurose) ihr Bestes geben. Dabei ist die Information der Öffentlichkeit wichtig! Freilich wird der Austausch immer schwieriger, denn „virtuell und möglichst knapp“ ist das Gegenteil von „analog und ausführlich“: Nichts kann das face-to-face-Gespräch unter Menschen wirklich ersetzen. Auf Beschränkungen im mitmenschlichen Austausch dürfen wir uns nur in Ausnahmen einlassen.
Bemerkenswert ist eine weitere Aufspaltung. Einerseits werden wichtige Themen benannt, die wir auch nach der Krise im Blick behalten müssen. Dazu gehören die ungerechte Verteilung von Gütern und Ressourcen im Gesundheitswesen, der Pflegekräftemangel, unsere Abhängigkeit von globalen Lieferketten und Produktionsstätten und die eklatanten Unterschiede zu den angrenzenden Nachbarländern.
Gleichzeitig werden Befürchtungen laut, dass all diese Themen vergessen sein werden, wenn die Krise vorbei ist. Wer glaubt ernsthaft, dass sich an der Sozialisierung von Kosten bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne etwas ändern wird? So fördert die CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) derzeit einige große Firmen mit immensen Fördergeldern, ohne dass es irgendeine Garantie oder auch nur vertragliche Regelung gibt, dass die Firmen die dann mit ihren Produkten erzielte Gewinne wenigstens teilweise wieder der öffentlichen Hand zurückgeben. Dies hat das ARD-Magazin Plusminus am 25. März dokumentiert. Beklagt wird dieses Missverhältnis schon lange, ohne dass ernsthafte Konsequenzen erfolgt sind. Eine ähnliche Problemanzeige betrifft den aus rein wirtschaftlichen Überlegungen über Jahre vorangetriebenen Abbau von Klinikbetten, der uns nun zu schaffen macht. Dies ist übrigens eine grenzüberschreitende Erfahrung: Im noch viel härter getroffenen Spanien führen Experten die tragisch ansteigenden Fallzahlen auch darauf zurück, dass jahrelang Betten in Krankenhäusern abgebaut und viele Kliniken privatisiert wurden.
Wir brauchen Räume, Orte und Gelegenheiten, um diese Dinge in Ruhe und mit breiter Beteiligung zu diskutieren. Freilich scheint in diesen Tagen für ernsthafte Diskussionsforen wenig Raum zu sein. Talksendungen, satirische Formate und der eine oder andere wissenschaftliche Fernsehbeitrag sind wichtig. Doch eine ruhige und breite und nach Möglichkeit ergebnisoffene Debatte schwieriger Themen sieht anders aus. Wir an der Evangelischen Akademie Tutzing können davon ein Lied singen. Wir brauchen diesen Diskussionsraum für die wirklich schwierigen Themen!
So ist die Frage der Triagierung eine wirklich ernste. Die Akademie für Ethik in der Medizin hat dazu gerade wichtige Leitlinien veröffentlicht. Wir müssen uns heute schon mit der Frage beschäftigen, wer behandelt und wer wieder weggeschickt wird, wenn Beatmungsplätze auf einer Intensivstation knapp sind. In Nürnberg hat inzwischen ein „Triagierungszelt“ vor einer Klinik geöffnet. Zwar werden dort vorläufig nur die „Fälle“ (also Menschen mit unterschiedlichsten Nöten, Fragen und Symptomen) vorsortiert, doch ein bemerkenswerter erster Schritt ist das allemal.
Ärztinnen und Ärzte (warum eigentlich nur sie allein?) müssen vielleicht bald entscheiden, wer behandelt werden darf und wer sterben muss. Dafür sind sie in aller Regel medizinethisch nicht umfassend ausgebildet. Hier hat die Politik in Zusammenarbeit mit der medizinischen Wissenschaft und Verantwortlichen des Gesundheitswesens noch viele Hausaufgaben vor sich. Das berührt die Grundfesten der medizinischen und pflegerischen Ausbildung und lässt sich auch nicht ad hoc ändern. Hier kommt Denkerinnen und Denkern, Kirchen, philosophischen Fakultäten und ernstzunehmenden Debattierzirkeln eine wichtige Rolle zu. Um diese Notwendigkeit wissen wir in unserer Akademiearbeit.
Ermutigend sind Einlassungen, die von ernsthaften Diskussionen zeugen. So hat der Deutsche Ethikrat am 27. März eine Empfehlung veröffentlicht: „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise – Ad-Hoc-Empfehlung“ (zum Download unter diesem Link).
Diese – sicher in gebotener Eile aber dennoch sorgfältig erarbeitete – Stellungnahme macht auf nur sieben Seiten deutlich, wie umfassend die Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft und ihrer Werte- und Normsysteme von der gegenwärtigen Krise berührt sind. Sie ruft ebenso zur Solidarität auf, wie sie zur Wachsamkeit mahnt. Als Beispiel seien einige Sätze auszugsweise zitiert, die im Kontext möglicher Entscheidungen auf Leben und Tod (zum Beispiel bei der Triagierung) an Grundvereinbarungen unsere Gesellschaft erinnern:
„…Das erfordert eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter, die auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung einbezieht….Für den Staat als unmittelbaren Adressaten der Grundrechte gilt darüber hinaus der Grundsatz der Lebenswertindifferenz: Be- oder gar Abwertungen des menschlichen Lebens sind ihm untersagt. Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig. Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz. Damit sind nicht nur Differenzierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt. Auch eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen „Wertigkeit“ oder einer prognostizierten Lebensdauer muss seitens des Staates unterbleiben…Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist. Selbst in Ausnahmezeiten eines flächendeckenden und katastrophalen Notstands hat er nicht nur die Pflicht, möglichst viele Menschenleben zu retten, sondern auch und vor allem die Grundlagen der Rechtsordnung zu garantieren…“
In Zeiten verordneten Rückzugs in die eigenen vier Wände ist die Lektüre solcher Papiere sicher lohnenswert und alles andere als reiner Zeitvertreib. Hoffen wir also, dass wir ohne allzu große Panik diese Krise überstehen und auch danach noch mit Beharrlichkeit und der nötigen Ruhe die wichtigen Diskussionen führen.
Der Autor ist Pfarrer und an der Evangelischen Akademie Tutzing Studienleiter für Ethik in Medizin und Gesundheitswesen, Pastoralpsychologie und Spiritual Care.
Bild: Frank Kittelberger (eat archiv)
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