Ein Tagungsrückblick von Adam Olschweski zur Tagung “100 Jahre Ingmar Bergman!”
Wenn eine gepflegte Dame fortgeschrittenen Alters einem ohne Vorwarnung zuflüstert: „Er hatte ja so viele Weiber“; oder aber: „Das Mittelalter war so schrecklich“, dann mag man erst ordentlich schlucken –und kurz darauf leicht anzweifeln, hier richtig zu sein. Unter Cineasten. Im Club der Dickbrettbohrer.
Das war es allerdings schon mit den Zweifeln. Für nahezu zwei ganze Tage Klausur auf überschaubarem Raum, mit enggesteckten Vorträgen, Filmen und Diskussionen, eine nicht allzu üble Bilanz. Der Gegenstand war ungefähr so klar umrissen wie unfassbar. Ingmar Bergman. Dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr jeder feiern darf, dem danach ist. Zu einer Tiefeneinsicht in das Werk sowie die Person hat auf alle Fälle die Evangelische Akademie Tutzing in Form einer Tagung geladen. Von 17 Uhr am Freitag bis ungefähr 14 Uhr am Sonntag, also das erste Februarwochenende lang. Das Programm war dicht, die Pausen knapp bemessen, so dass man kaum die Umgegend – Starnberger See, umfassende Parkanlage mit fremdländischem Baumbestand – sowie das von der nicht allzu hippen Schwedenküche angeregte, dennoch äußerst wohlschmeckendes Bio-Essen adäquat würdigen, kaum ein Oh! noch ein Ah! erübrigen konnte.
Dass Bergman für die Ewigkeit gemacht ist, das galt es unausgesprochen zu beweisen. Deshalb freute es Judith Stumptner, die für diese – mit „Das Theater als Ehefrau, der Film als Geliebte“ betitelte – Veranstaltung verantwortliche Studienleiterin der Akademie, unter den 62 Gästen nicht nur Bergman-Follower gesichtet zu haben, die etwa zu dessen Kampfgebiet, der Insel Farö, gepilgert sind, sondern auch ein paar junge Personen ohne jede Bergman-Erfahrung – derlei verschiedene Gästestruktur ergab zumindest eine kurze Umfrage anfangs. Noch einmal aber zum Baumbestand im Akademiepark. Als Sinnbild für Bergmans Schaffen hätte sich die in alle vierzehn Himmelsrichtungen strebende Flügelnuss aus dem Kaukasus angeboten, unter der man sicher den kompletten Wurzelirrsinn dieser Welt vermuten darf und die sich wenige Schritte vom doch recht behaglichen Auditorium breitmacht. Stattdessen aber bot Angelika Mrozek-Abraham, die Initiatorin der Tagung, gleich zu Beginn das Bild des Rhizoms an; eines Sprossachsensystems, das den unwiderlegbaren Vorteil hat, genauso gut aus dem Kaukasus wie auch aus der Nachbargemeinde von Tutzing stammen zu können. Man spricht ja gemeinhin und ziemlich laufend und ungestört sowieso von Bergman als Universum oder Galaxie, als Sonne, um die das Filmgeschehen kreist; doch eine Galaxie liegt fernab und mutet unwirtlich an; ein verhältnismäßig wirrer, unverständlich von irgendwo her gelenkter Wildwuchs, ein lebendiges Geflecht, wo dieses mit jenem zusammenhängt, trifft es tatsächlich weit besser. Die Rhizom-These griff jedenfalls. Fortan hat es fast jeder zweite der Referenten mindestens erwähnt und der gemeine Teilnehmer, egal ob nun mit Weib aus dem Mittelalter oder ohne, hatte es in der Unwirtlichkeit eigener Hirngalaxie verstaut.
Obwohl der Meinungsaustausch allzeit intensiv erfolgte, wenngleich etwas unkritisch vielleicht, da sich ein Überschuss an IB-Anhängern ergab, wurde längst nicht alles an Bergmans Kerngeschäft abgehandelt (Gott, Tod, Sühne, Vergebung, Kommunikation, Vakuum, die Sommersprossen der Liv Ullmann), doch kam immerhin die Kalkmalerei vor, die und die skandinavische Volksballade „Töres döttrar i Wänge“, die Bergman in „Die Jungfrauenquelle“ verarbeitet hat; ebenso die Dichotomie zwischen Gut und Böse, die Bergman in Frage stellte (Dr. Katarina Yngborn vom Institut für Nordische Philologie in München). „Wach auf, mein Herz, und singe“: Es war das einzige Liedgut, das in der Andacht zu Tagesbeginn, verhältnismäßig inbrünstig vorgetragen, vorkam (Text: Paul Gerhardt, Melodie: Nikolaus Selnecker, 1647 bzw. 1587 niedergelegt). Auch das passte. Bergman bricht einem ja nicht ungern gerade das Herz. Relativ zuverlässig auch. Schon auf den Theaterbühnen tat er das; auch da wühlte Bergman ausgiebig in der menschlichen Innenausstattung. Die Hinweise, dass er Dramatiker war, bevor er Drehbuchschreiber wurde, August Strindberg hörig, als Jüngling mit Puppentheater zugange, waren ebenso wichtig wie jene Grafik, die sinnbildlich machte, dass Bergman als sog. Workaholic üblicherweise Dreiviertel des Jahres mit Theater beschäftigt war, nur während der Saisonpause, im Sommer, einen Film drehte (Dr. Ewa Mrozek-Sadowska).
Mit Dr. Michael Düe war sogar ein Psychotherapeut am Start, der das Leiden Bergmans an sich selbst sowie der Welt überzeugend darlegte, der von „schwerer depressiver Episode“ sprach, von einer „formalen Denkstörung“, von „Verdrängung als Abwehrmechanismus“, von „innerlichem Tumult“, von „Objektmangel“, von dringender therapeutischer Hilfe – und den Selbstheilungsversuchen Bergmans, so war er nun mal: vornehmlich mittels Arbeit; und kluge Fragen stellte wie „Kann Kreativität neurotisch sein?“ Mit der Darstellung des Therapeuten bei Bergman, einem Seitenthema eher für hartgesottene Bergmanjünger, schien Düe nicht besonders glücklich. Fürs ZDF drehte Bergman den Fernsehfilm „Das Leben der Marionetten“, u.a. mit einem Therapeuten als Gegenstand; dort werde, so Düe, das „Abstinenzgebot“ verletzt, es komme zu einem „Vertragsbruch zwischen Patient und Therapeut“. Düe fragte, auf die abgründige Qualität von Bergmans Filmwerk hinweisend: „War das Trauma eine Voraussetzung?“ Man könne jedenfalls in Bergmans Werk keine eindeutige Grenze zwischen neurotisch und authentisch, zwischen neurotisch und kreativ klar ausmachen; Düe konkludierte zuletzt: „Der Verzicht auf Therapie war konsequent“; Bergman habe in beispielloser Dichte Konflikte in Filmen verarbeitet. Derlei Darlegungen, die bis in die Intimsphäre reichten, muteten insofern legitim an, weil Bergman selbst sich öffentlich zu seinen Gebrechen bekannte. Es passte, dass nach einer Analyse wie dieser sogleich Emphase folgte. In Form der Schauspielerin und Regisseurin Rita Russek, die mit Bergman am Residenztheater in dessen Münchner Zeit zusammenarbeitete, und im eben erwähnten ZDF-Film mitwirkte. Sie, eine souveräne, ein so amüsanter wie redegewandter Profi, kämpfte um Fassung, als sie sich an die Zeit mit Bergman erinnerte. Sie holte mit halbwegs freien Blick aufs großzügige Auditoriumsfenster und die leicht verschneite Parklandschaft dahinter ihren Bergman hervor: „Er hatte kein Faible für schönes Wetter. 17 Grad und Nebel, das ist es, was ich brauche, sagte er oft.“ Zusätzlich meinte Frau Russek in Hinblick auf Film und Theater: „Es geht nicht ohne die Mitgestaltung des Schauspielers“; koppelte schlüssig Bergmans Jähzorn an seine Großzügigkeit, sein offenes Ohr an. Sagte, Bergman hätte Widerwillen und Angst gegenüber Aggressionen gehabt. Sagte, dass er mit seiner Neugier und Zuwendung, Schauspieler zu öffnen, die Risikobereitschaft des Ensembles zu steigern vermochte. Ach ja, Frau Russek erzählte auch davon, wie sich Bergman bereits Jahre vor seinem Tod einen Sarg besorgte, der dann in seiner Scheue bereitstand. Den Sarg hatte er entdeckt, als er die Beerdigung von Papst Johannes II am Fernseher verfolgte. Exakt den wollte er dann haben.
Wir erfuhren ferner, was wir bereits mindestens ahnten, dass Bergman „im Stummfilm sozialisiert wurde“, der sei, so Professor Doktor Stephan Michael Schröder, sein „inspiratives Ideal“ gewesen, mit dem hätte er seine „formativen Filmerlebnisse“ gehabt, so dass er die Ästhetik des Stummfilms in seinen Filmen integriert habe. Prägnante Sätze aus kompetenten Mündern, mit denen man nach Tagungsschluss seinen eigenen Bergman in Heimarbeit herstellen durfte, fielen gleich zuhauf. „Jahrhundertkünstler“, „unermüdliches Arbeitstier“, „tiefe Ernsthaftigkeit“, „ein Liebhaber aller Schauspieler“, „Nichts hasste er so sehr wie Improvisation“, „Bergman war kein Theoretiker“, „Er war nie distanzlos“, „Er war ein großer Verführer“, „Bergmann suchte nach kreativer Gemeinschaft“, „Der Tod ist im Geflecht omnipräsent“, „Ein Film ist ein Echo des anderen“, „Close-ups funktionieren im Theater nicht“…
Während man sich in einer der knappen Pausen ein, ganz wie es sich in puritanischen Zirkeln gehörte, maßlos teighaltiges Plunderstück mit Nuss und Safran zuführte – regelmäßige Kaffee- und Zuckerzufuhr war in diesen Zusammenhängen von Belang –, blieb man mit dem Blick nur zu gern an den Fotografien von Marek Sadowski im Auditoriumsfoyer hängen, die Farö als „Kraftzentrum von Bergman“ wahlweise „Epizentrum der Sehnsucht“ (Mrozek-Abraham) darstellten. Wieder drinnen, einige Stunden hernach, sah man in dem Dokumentarfilm „Trespassing Bergman“ Regisseure vom Schlage eines Alejandro Gonzalez Inarritu, Michael Haneke, Claire Denis in Bergmans Farö–Haus die Videothek durchstöbern, aber auch an der Last der Intimität dort beinahe zusammenbrechen. Die Liste der Bergman-Adepten reicht weit – und mitunter weiter als gedacht, wie Kristina Jaspers und Nils Warnecke von der Deutschen Kinemathek deutlich machten. Woody Allen selbstverständlich, doch ebenfalls Kubrick, Lynch, Cronenberg, Hans-Christian Schmid dito. Es gibt wohl kaum einen Filmemacher, der so viele so unterschiedliche Regisseure über einen so langen Zeitraum beeinflusst hätte. Das war ungefähr die Konklusion. Eine der Konklusionen vielmehr. Denn es kam ja noch der Moritz Weigert dran. Er spielte leider nur die ersten drei Sätze aus der 5. Cello Suite von Johann Sebastian Bach, die Sarabande darunter – Sarabande war auch der Titel von Bergmans letztem Film (2003). Weigert spielte das Suitenbruchstück kontrastreich und spannungsgeladen, als handele es von jemandem, den das Menschsein zerreißt. Ein Portrait von Ingmar Bergman hätte man darin leicht hineinlesen können. Wäre nur die Zeit dafür übrig. Doch im Speisesaal wartete schon die vorzügliche kalte Rote Beete-Suppe mit Schlag. Und ein Windbeutel; der Bergman, allerdings kaum im kulinarischen Sinne, zweifelsohne irgendwo auch war. Alleine schon seiner vielen, nein, nicht Weiber: seiner Frauen wegen.
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