Studienleiter Martin Waßink fände es gerecht, “wenn die grundlegenden Lebensbedingungen nicht an der Größe des Ortes hängen.” So selbstverständlich dieser Wunsch erscheint – so schwierig scheint er sich verwirklichen zu lassen. Die Politik hat in der jüngsten Vergangenheit diesem Thema auf mehreren Ebenen verstärkt Gewicht gegeben. Jedoch: Ohne den Schub zivilgesellschaftlicher Kräfte wird es nicht gehen.
Die Frage nach den ungleichen Lebensverhältnissen in Stadt und Land beschäftigt viele Menschen – auch mich. Das geschieht schon allein aus biografischen Gründen: Aufgewachsen in einem Dorf, in dem erst seit ein paar Jahren mehr Menschen als Kühe wohnen, dann in eine kleine Studentenstadt gezogen und schließlich zehn Jahre in der Landeshauptstadt München gelebt. Ich finde es nur gerecht, wenn die grundlegenden Lebensbedingungen nicht an der Größe des Ortes hängen.
So selbstverständlich der Wunsch nach überall gleichen Lebensbedingungen aus einer Gerechtigkeitsperspektive heraus erscheinen mag, so schwierig ist dies für eine Gesellschaft zu erreichen. Seit Jahren tastet sich der deutsche Gesetzgeber auf verschiedenen Ebenen vor. Auch die Europäische Union hat das auf einer supranationalen Ebene mit ihrer Förderpolitik im Blick. Wie kann ein Weg zur Herstellung gleicher oder mindestens gleichwertiger Lebensverhältnisse aussehen? Lassen Sie uns den Blick zurück in die jüngere Geschichte werfen, bevor wir die aktuellen Entwicklungen in den Fokus nehmen.
Gleichheitsanspruch aller Lebensbedingungen vs. Gleichwertigkeit
Im Jahr 1994 wurde der Begriff “Gleichwertigkeit” ins Grundgesetz aufgenommen, um das gesamtgesellschaftliche Ziel unserer Lebensverhältnisse unabhängig vom Wohnort zu formulieren. Drei Jahre später hielt der Gesetzgeber in den Grundsätzen der Raumordnungspolitik explizit fest: “Ländliche Räume sind als Lebens- und Wirtschaftsräume mit eigenständiger Bedeutung zu entwickeln.”[1] Zuvor galt seit kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges die im Grundgesetz in Artikel 72 formulierte “Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse” als klarer Gleichheitsanspruch aller Lebensbedingungen.[2] Die Terminologie der Gleichwertigkeit ist verglichen damit viel unspezifischer: Regionale Disparitäten und Ungleichheiten werden bis zu einem gewissen Grad toleriert, wenn trotz Unterschiedlichkeiten und Vielfalt die annähernd gleichen Chancen für die individuelle Entwicklung bestehen und sich Abweichungen in einem akzeptablen Rahmen bewegen.[3] Vermutlich sah man nach der Wiedervereinigung die Unterschiede in Ost und West als zu groß an, um die Forderung nach Einheitlichkeit plausibel aufrecht zu erhalten.
Also dann eben Gleichwertigkeit: Was ist nun dieser akzeptable Rahmen, in denen sich die Qualität unserer Lebensverhältnisse in Städten und ländlichen Räumen unterscheiden darf? Zunächst einmal ist die Herstellung dieser unscharf definierten Gleichwertigkeit gemäß unserem Grundgesetz allein die Aufgabe von politischen Gebietskörperschaften. Bei allen Fragen der ländlichen Entwicklung ist und bleibt es die große Herausforderung, dass sich alle relevanten politischen Ebenen in einem Interessenausgleich abstimmen. Dieser Mammutaufgabe ist sich das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft durchaus bewusst, wie es beim kürzlich stattgefundenen Zukunftsforum Ländliche Entwicklung gezeigt hat: „Ziel aller Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen für die Menschen, die in den ländlichen Räumen leben, ist die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit der ländlichen Regionen, in denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands lebt.“ [4] Nun, man kann dem Staat keine Vernachlässigung des Themas vorwerfen, finde ich. Einzelne Bundesländer gehen noch weiter in ihrer Entschlossenheit, valide gesetzliche Grundlagen für Maßnahmen zu schaffen:
Im Jahr 2013 stimmten knapp 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Freistaat Bayern für die Aufnahme der Gleichwertigkeit als Staatsziel mit verbindlichem Charakter in die Bayerische Verfassung. Daraufhin setzte der Landtag eine Enquetekommission “Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern” ein. Fünf Jahre später schlug diese in ihrem Abschlussbericht Konzepte zur Verwirklichung dieses Staatsziels vor: Gleichwertigkeit solle als Chancengerechtigkeit mit verschiedenen Ausprägungen verstanden werden. Die Mitglieder der Kommission einigten sich auf drei Gerechtigkeitsdimensionen: Bedarfsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Generationengerechtigkeit.[5] Diese drei Ausprägungen umfassen alle relevanten Punkte der Daseinsvorsorge. Gleichzeitig sollen so die zukünftigen Generationen für alles staatliche Handeln im Blick bleiben. Auch die Herausforderung des Klimawandels wird adressiert: Zunehmend gilt der Leitsatz der Nachhaltigen Raumentwicklung: Gleichwertige Lebensverhältnisse und eine nachhaltige Entwicklung sind dann untrennbar miteinander verbunden.
Wie wollen wir als Bürgerinnen und Bürger unseren Lebensraum mitgestalten?
Fraglich ist oft, ob sich dieser Anspruch in der Praxis vor Ort umsetzen lässt. Ich finde es besonders wichtig, nach den lokalen Potenzialen zu fragen und nicht auf „die große Politik“ zu warten: Wie wollen wir als Bürgerinnen und Bürger unseren Lebensraum mitgestalten und wie können wir Verantwortung übernehmen? Die gesetzlichen Grundlagen für eine aktive Zivilgesellschaft gibt es schon längst:
Bereits der Raumordnungsbericht des Jahres 1990 enthält das Leitbild der endogenen bzw. regional angepassten Entwicklung. Oft lohnt sich ein Blick über den Gemeinderand hinaus in die Region – in welchen Bereichen der Daseinsvorsorge können Partnerschaften mit anderen Gemeinden weiterhelfen? Wie kann eine Gemeinde von interkommunalen Kooperationen profitieren? Auch andere Steuerungsformen zur Koordinierung des Handelns verschiedener Akteure – dies wird in der Wissenschaft unter Governance verstanden -, wie beispielsweise die Arbeit in losen Netzwerken werden zunehmend als Erfolgsfaktoren für die Entwicklung ländlich-peripherer Räume gesehen.[6]
So wachsen auch die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Kräfte wie Vereine und Interessensgemeinschaften. Diese wichtigen Akteure erhalten gerade aktuell auch besondere finanzielle Unterstützung durch den im Dezember 2020 verabschiedeten EU-Haushalt für die Periode 2021 bis 2027. Nun sind in den Jahren 2021 und 2022 auch 100-Prozent-Finanzierungen für Projekte ohne Eigenmittel möglich. Die Forderungen nach hohen Eigenleistungen von bis zu 30 Prozent und mehr einer Projektsumme erschwerte bisher die Umsetzung wichtiger Initiativen aus der Mitte der Gesellschaft. Bei der nun neu gestalteten Förderung im Rahmen des europäischen Corona-Aufbauprogramms, innerhalb der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik, sind finanzielle Mittel viel einfacher verfügbar.
Neue Akteure
Dazu kommt die im letzten Jahr von drei Bundesministerien ins Leben gerufene Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Diese versteht sich als neuer Akteur für ländliche Räume. Dieser Stiftung werden aus dem Haushalt der drei Ministerien jährlich 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um speziell “wirkungsorientierte Netzwerke in strukturschwachen und ländlichen Räumen” zu fördern.[7] Engagierte erhalten Rat bei rechtlichen Fragen und können mit weniger bürokratischen Hürden auch Geldmittel für ihre Projekte beantragen.
Die vielseitigen Themen und Herausforderungen in diesem Themenfeld anzugehen und dabei die neuen Möglichkeiten für die Entwicklung ländlich-peripherer Räume zur Diskussion zu stellen, all das wird auch Bestandteil der Bildungsarbeit der Evangelischen Akademie Tutzing dieses Jahr sein. Konkret möchten wir Sie schon jetzt auf folgende Tagungsvorhaben hinweisen: Die Veranstaltung “Gleichwertigkeit in Stadt und Land – eine Illusion?” wird vom 4. bis 6. Juni 2021 im Schloss Tutzing stattfinden. Zu Beginn des neuen Jahresprogramms 2021/22 gibt es einen aktuellen Forschungsaustausch in Form einer Fachtagung mit dem Titel “Verantwortung und Governance in ländlichen Räumen” vom 1. bis 3. September 2021. Dort werden aktuelle Forschungsergebnisse zur Verwirklichung von Chancengerechtigkeit in ländlichen Räumen aus ganz Deutschland vorgestellt.
Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und einzelne Landeskirchen begreifen es seit Jahren als ihre Aufgabe, das Lebensumfeld der Bürgerinnen und Bürger jenseits theologisch-pastoraler Kernaufgaben für ihre Gemeindemitglieder zu gestalten. Die besonderen Verbindungen von Kirche und Region werden Thema des zweiten Teils dieses Blogs im Frühjahr dieses Jahres sein.
Martin Waßink
Der Autor ist Volkswirt und arbeitet als Studienleiter für Wirtschaft und Arbeitswelt, Nachhaltige Entwicklung an der Evangelischen Akademie Tutzing. Er promoviert zu Kooperationsprozessen und Verantwortungsteilung in Netzwerken im Themenfeld der ländlichen Entwicklung.
Bild: Martin Waßink (Foto: eat archiv)
[1] Henkel, Gerhard (2018): Rettet das Dorf – was jetzt zu tun ist, S. 168
[2] Teilhabeatlas Deutschland – Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen (2019), S. 4
[3] Abschlussbericht Enquete-Kommission des Bay. Landtags „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“ (2018), nach Barlösius (2006), S. 18
[4] Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, https://www.zukunftsforum-laendliche-entwicklung.de/fileadmin/SITE_MASTER/content/Dokumente/Downloads2021/FACHFORUM6.pdf, S.1
[5] Das Leben Dorf – Werte, Konstrukte, Herausforderungen und Interaktionen, in: Kirche im Ländlichen Raum (2017), S. 6
[6] Troeger-Weiß, Gabi und Wohland, Julia (2016) in Schmied, Doris und Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Kooperationen, Netzwerke und Wertschöpfungsketten in der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen – Abschätzung ihrer Bedeutung für die Regionalentwicklung
[7] https://www.zukunftsforum-laendliche-entwicklung.de/fileadmin/SITE_MASTER/content/Dokumente/Downloads2021/FF17/Peranic-Holze_FF17.pdf, S. 18
Kommentare