Die Empfehlungen zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung sind enttäuschend, findet Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel. Den Trend zu einer schlechteren Rentenerwartung werden sie nicht aufhalten können. Nicht nur jetzt in der Corona-Krise gibt es zu den Rentenplänen der Bundesregierung allerdings kaum Resonanz in der Bevölkerung. Der sozialpolitische Diskurs bleibt auf die Fachkreise beschränkt. Dabei gäbe es einiges zu diskutieren.
Als vor zehn Tagen die Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ ihre Empfehlungen zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vorstellte, war die Enttäuschung groß: Keine dieser Empfehlungen ist irgendwie neu oder bemerkenswert, vor allem scheinen sie den Trend zu einer Verschlechterung der Rentenerwartungen in keiner Weise aufhalten zu können. Zuvor war in Fachkreisen und zuletzt auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing im Februar schon zu hören gewesen, dass die Kommission „wenig bis nichts“ (Axel Börsch-Supan) an konkreten Vorschlägen präsentieren werde. Und eigentlich war das aufgrund ihres Auftrags auch nicht anders zu erwarten: Nicht das freie Denken über Weiterentwicklungen und grundsätzliche Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung wurde ihr zur Aufgabe gemacht, sondern ein Konzept für einen „verlässlichen Generationenvertrag“, dessen Stellschrauben sich „im langfristigen Gleichgewicht“ befinden und der von einer „doppelten Haltelinie“ eingegrenzt wird (mehr dazu hier). So eingeschränkt kam die Kommission über eine Fortschreibung der bisherigen Regeln mit leichten Modifikationen nicht hinaus: Für die Haltelinien schlug sie Korridore vor, die sich zwischen 44 und 49 Prozent beim Sicherungsniveau bewegen und 20 bis 24 Prozent beim Beitragssatz. Wenn die derzeitigen Haltelinien bis 2025 tatsächlich „halten“ – das Sicherungsniveau darf nicht unter 48 Prozent (vor Steuern) sinken und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen – , würde das vermutlich bedeuten, dass es ab 2025 erst einmal einen ziemlich brutalen Schub in diese Korridore gibt.
Vermutlich wird auch das keinen Volksaufstand in Deutschland auslösen. Genauso brav wie die Kommissionsmitglieder – von denen allerdings einige durch Sondervoten zu erkennen gaben, dass ihnen die Kompromisslinie zu wenig ist – verhält sich auch die deutsche Zivilgesellschaft, wenn es um die Zukunft ihrer Alterssicherung geht. Ob Demonstrationen wie in Frankreich ein taugliches Mittel sind, um gegen empfundene Ungerechtigkeiten des Sozialstaats vorzugehen, ist freilich auch die Frage. Aber es gibt zu wenig sozialpolitischen Diskurs, zu wenig Streit darüber, wie wir uns als Gesellschaft eine gerechte Lösung dieser Fragen vorstellen. Was könnte überhaupt soziale Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang bedeuten?
Die Sozialversicherung ist kein Ansparsystem
In Deutschland haben wir uns angewöhnt, Gerechtigkeit in der Rentenversicherung vor allem als Leistungsgerechtigkeit zu denken. Seit der großen Reform von 1957 und der Einführung der dynamischen Rente war „Lebensstandardsicherung“ das erklärte Ziel der Rentenpolitik. Das heißt, das Alterseinkommen sollte – verkleinert – das vorherige Arbeitseinkommen widerspiegeln und einen sorgenfreien Ruhestand garantieren. Grundsatz war und ist bis heute, dass die Rentenhöhe sich an den in der Arbeitsphase entrichteten Beiträgen orientiert, die in so genannten Entgeltpunkten bemessen werden. Allerdings ist die Sozialversicherung kein Ansparsystem: Die Renten werden aus den laufend eingenommenen Beiträgen finanziert und die Beitragszahlenden erwerben lediglich Anwartschaften, die allerdings nach Ansicht vieler Juristen ebenfalls unter die Einkommensgarantie des Grundgesetzes fallen.
Seit den Reformen der Ära von Kanzler Schröder hat sich das Ziel der Lebensstandardsicherung auf mehreren Schultern verteilt: Die zweite und dritte Säule – also Betriebsrenten und private Vorsorge– sollen stärkere Anteile übernehmen. Allerdings wurde die ursprünglich als Verpflichtung gedachte ergänzende Vorsorge zu einem „Privatvergnügen“ im wörtlichen Sinn, das sich vor allem diejenigen nicht leisten können, die es im Alter an nötigsten bräuchten. Auch haben aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen und mancher Fehlkonstruktionen die „Riester-Produkte“ oft nicht gehalten, was sie versprochen haben.
Die Kategorie der Bedarfs- oder Bedürfnisgerechtigkeit hat im deutschen System nie eine große Rolle gespielt. Sie gilt als Aufgabe der steuerfinanzierten Sozialhilfe bzw. Grundsicherung im Alter. Mit den – nicht zum ersten Mal diskutierten – Vorschlägen für eine Grundrente, die jetzt noch parlamentarisch beschlossen werden muss, wird diese Systemtrennung allerdings durchbrochen. Festhaltend an der seit Bismarck geltenden Regel, dass Renten ohne Bedürftigkeitsprüfung als „Entgelt“ für das im Arbeitsleben Geleistete gezahlt werden, wollte die SPD eine solche Prüfung nicht, konnte sich damit aber in der Koalition nicht durchsetzen. Die Rentenversicherungsträger müssen daher die ihnen bisher fremde Aufgabe der Einkommensprüfung übernehmen und dabei auf Daten der Finanzämter zurückgreifen. Auch über dieses Faktum ist die öffentliche Empörung bisher ausgeblieben – vermutlich weil in der von der Koalition verbreiteten Euphorie, dass endlich ein schon über mehrere Regierungsperioden diskutiertes Vorhaben ins Werk gesetzt wurde, dieses „Detail“ in den Hintergrund gedrängt wurde.
A propos Geschlechtergerechtigkeit
Offensichtlich ist jedenfalls, dass von der Grundrente Frauen überproportional profitieren werden, denn niedrige Renten beruhen häufig auf unterbrochener oder Teilzeiterwerbstätigkeit, die eben bei Frauen viel eher die Regel waren und immer noch sind, auch wenn die Frauenerwerbsquote konstant zunimmt. Hier kommt, wenn man so will, ein weiteres Gerechtigkeitskonzept ins Spiel: die Geschlechtergerechtigkeit. In Deutschland ist nach OECD-Studien der Unterschied der Alterseinkommen zwischen Mann und Frau nämlich einer der höchsten in den Staaten, die überhaupt ein entwickeltes Altersvorsorgesystem haben. Und dieser „Pension Gap“ würde durch den Koalitionsbeschluss vom Februar 2020 gemindert, denn egal ob die niedrige Rente auf schlecht bezahlter Vollerwerbstätigkeit oder auf Teilzeitarbeit beruht, die Differenz zur Grundrente würde bei Vorliegen der anderen Kriterien voll ausbezahlt. Dass ein solches Grundrentenkonstrukt dem alten Äquivalenzdenken bzw. der Leistungsgerechtigkeit nicht entspricht, liegt auf der Hand. Andererseits ist die von Frauen erbrachte Erziehungsleistung oder Familienarbeit auch eine Leistung, die so indirekt anerkannt wird.
Das Problem mit der Grundrente, genauso wie mit der „Mütterrente“ oder der abschlagsfreien Rente ab 63, ist meines Erachtens gar nicht, dass sie das alte System und seine Kategorien in irgendeiner Weise aushebeln. Im Gegenteil: Wir brauchen ja Veränderung im System, wenn es der Erwerbsgesellschaft des 21. Jahrhunderts und vor allem dem demografischen Wandel gerecht werden soll. Das Problem liegt, um eine letzte Gerechtigkeitskategorie anzuführen, bei der Generationengerechtigkeit. Diese Reformen der letzten Jahre machen es für die jetzt junge (und zahlende) Generation nämlich noch schwieriger, selbst eines Tages ein auskömmliches Rentenniveau zu erreichen – von einer komfortablen Rente oder Pension, wie sie die heutigen BezieherInnen von Alterseinkommen häufig noch haben, ganz zu schweigen.
Wie schaut die junge Generation heute auf diese Thematik? Bei der eingangs erwähnten Tagung in Tutzing im Februar 2020 brachten einige Studierende der Sozialen Arbeit wichtige Gedanken und auch ihre Gerechtigkeitsvorstellungen ins Spiel. Dazu gehörte sehr stark, dass sie sich ein einheitliches Altersvorsorgesystem für alle wünschen, also eine Einbeziehung der Selbständigen und Beamten. Sie wiesen darauf hin, dass sie in dieser Zeit im Allgemeinen nicht mehr von 40 bis 45 Jahren Erwerbstätigkeit im gleichen Beruf oder gar im gleichen Betrieb ausgehen. Den schwierigeren und häufig fragmentierten Erwerbsverläufen in ihrer Generation müsse auch in der Rente Rechnung getragen werden: Solo-Selbständigkeit und partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit wurden als Problembereiche genannt oder auch die Beseitigung von zu niedrigen Löhnen in Pflege- und Erziehungsberufen.
Das alles war nicht gänzlich neu, aber verfehlte seine Wirkung auf die anwesenden Experten nicht. Wenn die Generationen direkt miteinander in den Dialog treten, liegen eben doch noch andere Argumente und Ansprüche auf dem Tisch, als wenn in der Rentenkommission – erwartungsgemäß – die Vertreterin der Gewerkschaften ein höheren Rentenniveau fordert und der Arbeitgebervertreter für mehr private Vorsorge plädiert. Mein Vorschlag: Lasst die Jugend das nächste Mal mitreden! Vielleicht kommt dann auch mehr heraus – wer weiß?
Dr. Ulrike Haerendel hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert und promovierte 1996 am Institut für Neuere Geschichte in München. Nach Stationen an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, der Universität Kassel und am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München nahm sie 2009 ihr Amt als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Tutzing auf und verantwortet seitdem das Referat für Soziales, Familie und Generationen, Geschlechter- und Gleichstellungsfragen sowie Geschichte.
Bild: Ulrike Haerendel (Foto: privat)
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