Himmel & Erde

Tolerant leben – aber wie?

In Deutschland hat die Toleranz in den vergangenen 25 Jahren abgenommen. Zu diesem Ergebnis kam 2013 eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt im internationalen Vergleich und differenziert innerhalb Deutschlands misst. Viel Aufsehen hat der Befund nicht ausgelöst. Dabei hat die stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Liz Mohn, recht, wenn sie feststellt: „Vielfalt ist der Schlüssel für die Welt von Morgen.“ Und Deutschland – wie auch andere Länder in Europa – bekommen ein Problem, wenn die Akzeptanz und Wertschätzung von Vielfalt nicht gefördert wird, damit Menschen anderer Herkunft, Kultur und Religion sich bei uns wohlfühlen können.

Vielleicht war dieser Weckruf noch viel zu allgemein, dass er eine Diskussion hätte entfachen können. Auch das Themenjahr „Toleranz“ im Rahmen der Lutherdekade, die die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ausrief, hat – trotz vieler kluger Vorträge – keinen gesellschaftlichen Diskurs zu entfachen vermocht. Mal sehen, ob es der ARD mit ihrer Themenwoche „Toleranz“ in diesem Herbst gelingt.

Reaktionen auf zwei Preise, die die Evangelische Akademie Tutzing in Kürze vergibt, zeigen aber, wie die Positionen aufeinander prallen, wenn es konkret wird.

Das erste Beispiel: Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. h.c. Charlotte Knobloch, erhält den „Tutzinger Löwen“. Wir würdigen mit dieser Auszeichnung das Engagement von Charlotte Knobloch „für eine jüdische Gegenwart und Zukunft in Deutschland, ihren Maßstab setzenden Einsatz für Versöhnung sowie ihr unbeugsames Eintreten gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus“.

Nach der Bekanntgabe erreichten uns einige Zuschriften, die – zurückhaltend formuliert – als grenzwertig einzustufen sind beziehungsweise klar antisemitisch. Wir seien „Judenknechte“ – und trügen eine Mitschuld am Tod der Palästinenser im jüngsten Gaza-Konflikt.

Woher kommt dieser Hass? Der Soziologe Ulrich Beck hat in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (11. August) notiert: „Plötzlich werden die Nachbarn wieder zu Juden gemacht und damit zu Ausländern in ihrem eigenen Land, in Deutschland, Frankreich, Italien und andernorts. Und diese Unfähigkeit zu unterscheiden – die Tatsache, dass alle Juden mit Israelis gleichgesetzt werden und alle Israelis mit Palästinenserkillern – ist ein wesentlicher Hintergrund für die neue Welle des Antisemitismus.“

Die überwunden geglaubte Sippenhaftung ist plötzlich wieder da. Diese Entwicklung darf keinesfalls verharmlost werden. Sie zeigt, dass ungeachtet aller historischer Aufarbeitung des Dritten Reiches und etwa der zahlreichen Aktivitäten der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit über die Jahrzehnte hinweg es nach wie vor einen signifikanten Anteil in der Gesellschaft gibt, der antijüdisch eingestellt ist. Dass dieser Anteil in den Kirchen noch über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt, unterstreicht die Bedeutung dieses Problems.

Das zweite Beispiel: Bundespräsident a. D. Christian Wulff erhält den Toleranz-Preis. Mit dieser   Auszeichnung werden Persönlichkeiten geehrt, die sich für die Verständigung zwischen Menschen, Nationen, Religionen und Kulturen einsetzen. Wir würdigen Wulffs „leidenschaftliches Werben für einen verstärkten Dialog mit dem Islam“ sowie sein Engagement „für eine Gesellschaft, die offen ist für kulturelle Vielfalt und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem“. Durch den Hinweis in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit 2010, wonach der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre, hat er „einen wichtigen Beitrag zur Integration von Muslimen geleistet“.

Zwischenzeitlich sind bei uns eine ganze Reihe von polemischen, geradezu hasserfüllten Briefen und Mails eingegangen. Bei nicht wenigen ist das Prinzip Sippenhaftung das Leitmotiv. Ihr Tenor: Weil die Terrorgruppe Islamischer Staat – IS – den Irak und Syrien mit einer Welle von Gewalt überzieht, deshalb ist der Islam in Deutschland abzulehnen. Solange in Ländern der arabischen Welt keine Kirchen gebaut werden dürfen, darf es auch bei uns keine Moscheebauten geben. Und so weiter.

In Deutschland leben zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime – je nach Statistik. Das sind gut fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Rund 45 Prozent der hier lebenden Muslime mit Migrationshintergrund sind übrigens deutsche Staatsangehörige.

Dass es „den“ Islam nicht gibt, weder in Deutschland noch weltweit, macht die Betrachtung nicht einfacher. Zum Islam in Deutschland gehören sehr unterschiedliche theologische Strömungen, eine komplexe Organisationsstruktur. Und mindestens vierhundert extrem gewaltbereite Muslime, die in den vergangenen drei Jahren Deutschland verlassen haben, um an der Seite des IS  im Nahen Osten zu kämpfen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zukunft unserer Gesellschaft auch davon abhängt, ob es ihr gelingt, Muslime zu integrieren. Diese Herausforderung kann freilich nur gemeistert werden, wenn unsere Gesellschaft offen ist für Muslime – und wenn diese die Bereitschaft zeigen, sich integrieren zu lassen, um diese Gesellschaft mitzugestalten.

Was ist nötig, damit dieser Prozess gelingen kann? Da ist zum einen Toleranz gefordert – und zwar nicht im Sinne von: Mach doch, was du willst, sondern im aktiven Sinne: Anerkennung, Verstehen wollen, auf andere zugehen. Diese Grundhaltung müssten alle einnehmen, um miteinander ins Gespräch zu kommen – über Fragen wie diese: Wie lebst du? Was glaubst du? Zum anderen brauchen wir mehr Bemühungen um Dialog und eine Förderung von Plattformen wie etwa der Eugen-Biser-Stiftung, mit der auch die Evangelische Akademie Tutzing kooperiert. Die Biser-Stiftung hat unlängst ein zweibändiges „Lexikon des Dialogs“ zu Grundbegriffen des Christentums und des Islam herausgegeben – in deutscher und in türkischer Sprache.

Wenn die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem nicht stattfindet, werden die Probleme des Zusammenlebens nicht nur nicht gelöst, sondern sie verschärfen sich. Das kann niemand wollen. Wer in unserer Gesellschaft diskurserprobt ist, weiß, dass der Dialog nicht immer nur Vergnügen bereitet. Im Gegenteil! Es wird Streit geben – und Missverständnisse – und die Bestätigung mancher Vorurteile. Nicht zuletzt: Wie kann man die Dialogverweigerer gewinnen – und zwar auf allen Seiten? Und warum ist eigentlich die Ernte bisheriger Bemühungen so mager?

Es gab auch Zuschriften, die klar auf Dialog zielen – mit sehr ernst zu nehmenden Fragen: ob der Islam wirklich zu Deutschland gehört, wie er in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu Gewalt steht, wie zur Demokratie, ob er – wie das Christentum in der westlichen Welt – auch eine Aufklärung braucht usw. Dies sind Fragen, die diskutiert werden müssen.

Die Frage nach dem „ob“ – z. B. ob Deutschland ein Einwanderungsland ist – stellt sich nach meinem Eindruck nicht mehr. Sie ist entschieden. Menschen aus anderen Kontinenten, Kulturen und Religionen leben bei uns. Was wir tun können, ja müssen, das ist die Frage nach dem „wie“ in immer neuen Anläufen aufzugreifen: Wie können wir zusammen leben?

Angesichts des islamistischen Terrors, der  im Irak wahllos Christen tötet und der auch vor Mord an Muslimen nicht zurück schreckt, kann ich verstehen, dass manche die Hoffnung auf einen Frieden der Religionen für gänzlich unrealistisch halten. Andererseits könnten wir uns in Deutschland durchaus noch mehr anstrengen – die Kirchen, Sportvereine, Nachbarschaftshilfen, Elternvereinigungen, die muslimischen Gemeinden und Verbände – alle! Wir brauchen mehr und neue Brücken der Verständigung. Wir müssen die besonnenen Kräfte im Islam stärken und sie ermutigen, ihrerseits die Verständigung zwischen Kulturen und Religionen zu fördern. Unsere Zivil- und Bürgergesellschaft erweist ihre Stärke darin, dass sie über Regeln verfügt, solche Kontroversen und Konflikte auszutragen und zu Lösungen zu kommen. Beim Thema Islam und Integration kann, ja muss sie es jetzt zeigen.

Toleranz – das ist das Lebens- bzw. Überlebensthema europäischer Gesellschaften. Toleranz kann nicht mehr bloß Duldung oder Koexistenz sein. Es geht um Anerkennung und Wertschätzung, um ein Bemühen um den anderen, ihn verstehen zu wollen, auf ihn zuzugehen, eigene Ängste zu überwinden und – wo nötig – Zivilcourage zu zeigen.

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