Digitale Teilhabe ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Lebens geworden. Doch nicht für alle ist das selbstverständlich. Besonders die “Digital Immigrants” – Menschen, die nicht mit digitalen Medien aufgewachsen sind – fühlen sich oft abgehängt. In ihrem Blogbeitrag schreibt Dr. Helga Pelizäus, Expertin für Alter(n) und Digitalisierung, warum der Zugang zur digitalen Welt für jede und jeden sichergestellt werden muss, ältere Menschen ihre Einstellung zur digitalen Technik kritisch überprüfen sollten – und was sie sich dabei von den “Silver Tekkies” abschauen können.
von Helga Pelizäus
Die Corona-Krise hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, was es heißt, keinen Zugang zur digitalen Welt zu haben. Sie hat gezeigt, dass in einer zunehmend digitalisierten Welt digitale Teilhabe für jeden Menschen zum unverzichtbaren Bestandteil des Lebens geworden ist. Ist bestimmten Gruppen der Zugang nicht gewährt, zeigt sich eine Spaltung der Gesellschaft, die Ungleichheiten verschärft und gleichzeitig neue hervorruft. Diese Erfahrungen zwingen uns, nicht mehr bei der Frage nach dem Pro und Contra digitaler Technik stehen zu bleiben, sondern uns damit zu beschäftigen, wie wir deren Potenziale sinnvoll nutzen können, um nicht abgehängt zu werden.
Auch wenn die Digitalisierung das höhere Lebensalter längst erreicht hat, so ist die Nutzung digitaler Geräte doch noch längst nicht für alle älteren Menschen selbstverständlich. Vielen fehlt noch immer der Zugang zum Internet, so dass zum Beispiel die coronabedingten Kontaktsperren teils zu starken Einbußen ihrer sozialen Teilhabe, ihrer Lebensqualität und ihrer Unterstützung geführt haben. Auch eine Zunahme von Einsamkeitsgefühlen lässt sich durch aktuelle Studien belegen. Entsprechend kann auch von der doppelten Exklusion dieser Menschen gesprochen werden.
Immerhin hat das Thema Digitalisierung im Spiegel der Corona-Krise auf der politischen Agenda einen hohen Stellenwert eingenommen. Der unaufschiebbare Handlungsbedarf ist sichtbar geworden, ebenso wie die Tatsache, dass die Digitalisierung unseren Alltag künftig noch weit mehr bestimmen wird als schon heute. Entsprechend muss – so lautet meine Empfehlung – für alle Menschen ein Zugang zur digitalen Welt sichergestellt werden. Ebenso müssen Unterstützungsangebote zum Erwerb digitaler Kompetenzen existieren, die es allen ermöglichen, die Technik reflektiert und im eigenen Sinne nutzen zu können.
In diesem Sinne richtet auch die Sachverständigenkommission zum Achten Altersbericht “Ältere Menschen und Digitalisierung” einen dringlichen Appell an Bund, Länder und Kommunen, allen älteren Menschen einen Zugang zur digitalen Welt und eine kompetente Techniknutzung zu ermöglichen. Adressiert werden vor allem die Kommunen und Landkreise, da sie einerseits zur Schaffung der nötigen technischen Infrastruktur beitragen können. Andererseits sind sie die lokalen Ansprechpartner, wenn es darum geht, analoge (und digitale) Strukturen und Angebote zum Erwerb digitaler Souveränität bereitzustellen.
Auch wenn viele der gegenwärtigen Probleme nicht individuell lösbar sind, ihre eigene Einstellung gegenüber digitaler Technik können und sollten die älteren Menschen kritisch überdenken. Auf der Basis meiner Forschung möchte ich einige weit verbreitete Überzeugungen vieler älterer Menschen als Irrtümer “entlarven” und sie ermutigen, sich der digitalen Technik zu öffnen.
“Ich bin alt, weil ich Unterstützung bei der Technik brauche”, so denken viele ältere Menschen. Dahinter steckt das vermeintliche Erleben einer Rollenumkehr der Generationen, dass sich die ursprüngliche Abhängigkeit der Kinder von den Eltern nun ins Gegenteil verkehre. Und dieser vermeintliche Rollenwechsel wird mit Bedürftigkeit assoziiert und erweckt das Gefühl, trotz Fitness und Wohlbefinden in die Phase des “hohen” Alters eingetreten zu sein und dies vielleicht schon mit 60 Jahren. Aber: Der Unterstützungsbedarf bezieht sich nur auf einen konkreten Bereich, nicht auf das gesamte Leben. Und: Interesse an digitaler Technik spiegelt Offenheit wider und wird von den jüngeren Generationen meist positiv aufgenommen.
“Immer muss ich nachfragen, während die Jungen schon alles wissen”, so lautet eine weitere irrige Überzeugung. Und meist wird die Begründung gleich mitgeliefert: “Die Jüngeren sind mit der Technik aufgewachsen, wir aber nicht”. Aber: Auch die Jüngeren fragen ständig nach. Sie wählen allerdings andere Ansprechpartner. Während sich ältere Menschen meist an ihr direktes soziales Umfeld wenden, fragen jüngere in der Regel die anonyme Netz-Community. Denn irgendjemand aus dem Internet hat das jeweilige Problem in der Regel schon gelöst und berichtet gerne darüber, wie es zu bewältigen ist.
“Wenn ich nachfrage, ist das ein Zeichen mangelnder Technikkompetenz”, heißt es häufig. Aber genau das ist es nicht. Die Notwendigkeit des Nachfragens liegt in der Komplexität digitaler Technik und ihrer vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten begründet. Selbst ausgewiesene Informatiker:innen können nicht die gesamte digitale Welt erfassen und müssen sich mit ihrer Expertise auf kleine Teilgebiete beschränken.
„Ich kann mir digitale Technik nicht leisten“. Auch dieser Satz wird oft von älteren Menschen formuliert. Allerdings erleben wir, dass digitale Technik immer günstiger wird. Aufgrund des rasanten technischen Fortschritts und eines hohen Konkurrenzdrucks zwischen den Firmen sinkt der Anschaffungspreis von Geräten immer schneller, sobald ein neueres Produkt auf den Markt kommt. Hinzu kommt, dass die Kosten für Geräte, die ein unabhängiges Leben in hohem Alter unterstützen, zum Teil von (Pflege-)Kassen, Kommunen und/oder Ländern übernommen werden.
Die “richtigen” Überzeugungen sind entscheidend für einen erfolgreichen Technikeinsatz. Am Beispiel der von mir als Silver Tekkies bezeichneten Frauen sehr hohen Alters, die ich im Rahmen einer Studie “entdeckte”, möchte ich diese These erläutern. In doppelter Negation alters- und geschlechtsspezifischer Stereotype haben sich diese Frauen mit über 80 Jahren mit Hilfe digitaler Geräte ihren Weg zum selbstbestimmten Leben im Alter geebnet. Sie erleben digitale Technik als späte und großartige Chance zur emanzipativen Aneignung neuer Spielräume, für ihre individuelle Lebensgestaltung und soziale Teilhabe.
Ihr Blick auf Technik ist positiv gestimmt. Sie haben die zunehmende Technisierung ihres Haushalts seit den 1950er Jahren als große Steigerung ihrer Lebensqualität erlebt. Ihre Rolle als Hausfrau und Mutter ließ ihnen allerdings keine Möglichkeit zur Aneignung umfassender Technikkompetenz. Dies war den Männern vorbehalten.
Wesentlich für ihre heute erfolgreiche Nutzung digitaler Technik ist ihre Einstellung: Sie sind überzeugt, dass sich die “neue”, digitale Technik grundlegend von der “alten” unterscheidet. Damit hat ihr fehlendes Technikwissen hinsichtlich “alter” Technik keine Bedeutung mehr. Sie sehen sich beim Umgang mit digitalen Geräten vor die gleichen, “neuen” Herausforderungen gestellt wie Männer. Und darin sehen sie ihre späte Chance, das geschlechtsspezifische Kompetenzgefälle zu überwinden bzw. die Männer zu überflügeln. Sie vertrauen dabei auf ihr Interesse, ihr Engagement und ihr Durchhaltevermögen bei der Aneignung technischer Kompetenz. Hinzu kommt ihre Überzeugung, digitale Geräte nicht vollständig durchschauen zu müssen, um sie zu nutzen. Entsprechend lassen sie sich nur die wichtigsten Bedienungsschritte erklären, üben viel und gerne und sind mit großer Offenheit dabei, die Geräte ganz in ihrem Sinne zu nutzen.
Die Silver Tekkies verweisen auf eine vielversprechende Weise des Einsatzes digitaler Technik. Sie demonstrieren, dass diese auch mit nur wenigen technischen Vorerfahrungen erfolgreich für eigene Ziele einsetzbar ist. Den Silver Tekkies haben digitale Geräte den Weg zu später Emanzipation, zu neuen Spielräumen und zu einem selbstbestimmten Leben im Alter geebnet.
Zur Autorin
Dr. Helga Pelizäus studierte Wirtschaftswissenschaften und Soziologie in Paderborn und München. Sie wurde 2015 an der Universität der Bundeswehr München promoviert und ist dort heute Privatdozentin mit Schwerpunkt “Alter(n) und Digitalisierung” an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften. Helga Pelizäus ist Vorstandsmitglied der Sektion “Alter(n) und Gesellschaft” der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und Mitglied der Sprechergruppe des Fachübergreifenden Ausschusses “Alter und Technik” der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). Zuletzt wirkte sie als Mitglied der Sachverständigenkommission am Achten Altersbericht der Bundesregierung zum Thema “Ältere Menschen und Digitalisierung” mit.
Hinweis:
Helga Pelizäus wird mit einem Vortrag zu zentralen Ergebnissen ihrer Forschung wie auch des Achten Altersberichts die dritte Tutzinger Quartierstagung eröffnen. Die Tagung fragt unter dem Schlagwort “Mensch vernetz dich!” nach den analogen Chancen der Digitalisierung insbesondere für ältere Menschen in den städtischen und ländlichen Quartieren. Die Tagung findet am 19. und 20. Januar online statt. Weitere Informationen und die Möglichkeit sich anzumelden, finden Sie hier.
Bild: Helga Pelizäus (Foto: Economy Business Fotografie)
Ich bin nicht der gleichen Ansicht wie Frau Pizäus. Die digitale Welt förderte die Einsamkeit, da sich die “jungen” Menschen nur noch übers Internet austauschen. Die ältere Generation verhält sich noch natürlich, indem sie noch bei echten Menschen nachfragt, wenn etwas nicht verstanden wird. Und so solls auch sein! Was ist Schlimmes dabei, wenn die Menschen noch von Angesicht zu Angesicht kommunizieren ?? Aber anscheinend wird durch die Digitalisierung der Mensch noch mehr zum Eigenbrötler und irgendwann schafft er sich selbst ab.