“Wegkommen von Schwere und Stigma und hin zu einem normalisierten Umgang” mit mentaler Gesundheit. Das ist der Wunsch von Dominique de Marné, die selbst 15 Jahre unter psychischen Problemen litt. Sie ist heute gesund, erfolgreiche Bloggerin und bezeichnet sich als “Mental Health Visionary”.
Von Dominique de Marné
Woran denken sie, wenn Sie “mentale Gesundheit” lesen? Wenn ich vermute, dass dabei schwarz-weiße Bilder, traurige Klaviermusik und Begriffe wie Störung, Stress, Depression eine Rolle spielen, liege ich leider bei vielen Menschen richtig. Und das ist ein Problem. Diese sofort auftauchende Schwere, sobald das Thema angesprochen wird. Da schwingen Schuld und Scham an der Seite von Unwissenheit und Unsicherheit; Probleme, Kampf und Leid reichen Extremen und Verzerrungen die Hand, die Hilflosigkeit setzt sich obendrauf und am Ende führt diese Mischung dazu, dass die meisten Menschen gerne einen weiten Bogen um das Thema machen. Bis es sie denn (be)trifft. Direkt oder indirekt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, dass zu mentaler Gesundheit auch psychische Erkrankungen gehören, weiß ich aus eigener Erfahrung: ich war selbst 15 Jahre lang “Betroffene”, die Jahre von 15 bis 30 waren für mich geprägt von Borderline, Depressionen, Alkoholabhängigkeit, Suizidalität, Selbstverletzung. Und ja, das waren schwere Jahre. Und bei mir hat es zehn Jahre gedauert, bis ich meine Diagnosen erhalten habe – davor dachte ich einfach, ich sei eben schwach, alles meine Schuld, “allen anderen geht es doch gut”, “alle anderen sind doch so normal” – wenn das bei mir anders ist, habe ich eben Pech gehabt.
Für mich war das Wissen, “nur” psychisch krank zu sein ein enormer Wendepunkt und eine große Erleichterung. Und der Beginn meiner Genesung. Natürlich nicht von heute auf morgen, sondern über viele Jahre Therapien, Rückschläge, Fortschritte, Geduld, Zeit, Verständnis
Zehn Jahre meines Lebens habe ich an meine Erkrankungen verloren. Denn die Jahre von 16 bis 26 möchte ich im Rückblick nicht “Leben” nennen – wenn dann überleben. Das ist schade und schmerzhaft, ich kann es aber nicht ändern (Stichwort: Radikale Akzeptanz). Durch meine Arbeit kann ich anderen aber genau diese Erfahrung ersparen. Denn mittlerweile habe ich verstanden, kenne ich die Gründe, warum ich so lange nicht wusste, was mit mir los war.
Das eine ist fehlendes Wissen – denn weder im Elternhaus noch in der Schule oder im Arbeitskontext habe ich etwas über mentale Gesundheit gelernt. Wie eine Raucherlunge aussieht, wie Diabetes im Körper funktioniert war ganz selbstverständlicher Inhalt des Biologie-Unterrichts – von Depressionen, Emotionen, Achtsamkeit aber keine Spur.
Und das andere ist der (nicht vorhandene) Umgang mit dem ganzen Themenbereich. Hier hat sich in den letzten Jahren „dank“ Krisen, Corona, Kriegen schon etwas getan, aber noch lange nicht genug. Wie oben angedeutet bleiben wir zu häufig am „dunklen, kranken“ Ende des Kontinuums.
Und ich bin mit meiner Geschichte ja nicht alleine! Wir wissen, dass jede:r Dritte Mensch in Deutschland einmal im Leben eine behandlungsbedürfte psychische Erkrankung entwickelt; dass 50 Prozent davon ihren Ursprung vor dem 15. Lebensjahr haben (und es trotzdem keine flächendeckenden Programme an Schulen gibt), dass mehr Menschen durch Suizid sterben als durch Verkehrsunfälle, Drogen UND Aids zusammengenommen; dass der nicht vorhandene Umgang Staat und Wirtschaft jedes Jahr Milliarden kostet; dass Menschen durchschnittlich sieben Jahre warten, bis sie sich Hilfe holen; dass Wartezeiten von 22 Wochen auf einen Therapieplatz nicht normal sein sollten.
An all diesen Punkten kann ich wenig ändern. Was ich ändern kann und worauf ich mich in meiner Arbeit mit der Mental Health Crowd fokussiere ist die Prävention, die Awareness-Arbeit, die psychische Gesundheitskompetenz zu stärken. Leute früher oder überhaupt in Kontakt mit dem Thema zu bringen und zu zeigen, dass es auch Spaß machen kann und darf, sich damit zu befassen. Und es aber nicht bei dem Bewusstsein allein zu belassen, sondern konkretes Wissen zu vermitteln, Tools und Tipps, was jede:r jeden Tag für sich tun kann – das müssen keine Therapiesitzungen oder zweistündige Versuche sein, in unbequemen Positionen auf dem Boden zu sitzen und nichts zu denken. Es geht viel leichter. Viel kleiner. Viel alltagsnaher. Viel nachhaltiger.
Mir geht es mittlerweile gut. Sehr gut. Ich bin seit vielen Jahren stabil, erfüllte keine Diagnosekriterien mehr, bin – auch, wenn das vielleicht kitschig klingt – gesund und glücklich. Ich habe vieles geschafft, was für mein 17, 19, 24-jähriges Ich unvorstellbar gewesen wäre: ich habe meinen 30. Geburtstag erlebt, bin Mutter geworden, habe ein Unternehmen gegründet, ein Buch geschrieben und nutze meine Geschichte heute dazu, um Türen zu öffnen und Veränderung zu erreichen. Und mich – “trotzdem” und weiterhin – um meine mentale Gesundheit zu kümmern, ist für mich selbstverständlich. Meine “Mental Health Maintenance”, wie ich sie nenne, findet jeden Tag statt. Denn ich habe auf unschöne Weise gelernt, was passiert, wenn wir uns nicht um unsere mentale Gesundheit kümmern. Sie ist für mich nicht selbstverständlich. Sondern ich tue jeden Tag etwas für sie – genau wie ich jeden Tag Zähne putze, schlafe oder mich bewege.
Was ich mir für Mental Health wünsche ist, dass wir Wegkommen von Schwere und Stigma und hin zu einem normalisierten Umgang; ich wünsche mir Angebote aber der frühen Kindheit (oder sogar schon Schwangerschaft); mehr Berührungspunkte mit dem Thema; bessere Rahmenbedingungen, die das Thema selbstverständlicher in alle Lebenswelten holen, Unternehmen und Organisationen dazu verpflichten, mehr dafür zu tun; ich wünsche mir mehr Zusammenschlüsse mit anderen Gesellschaftsbereichen wie Sport und Kultur; bessere Darstellung des Themas in den Medien und und und… Ideen habe ich viele, nicht umsonst ziert mein LinkedIn-Profil seit einiger Zeit der Begriff “Mental Health Visionary”.
Was ich mir für Sie wünsche ist, dass sie nach diesem Beitrag den Blick weiten und neue Assoziationen mit “Mental Health” sehen – Stärke, Resilienz, Wachstum, Hoffnung, Hilfe und vor allem Normalität. Denn #woeinmenschdaeinementalhealth.
Ich wünsche mir, dass Sie für sich überlegen, wo Sie gerade stehen – mal kurz innehalten und reflektieren, wie es um Ihre mentale Gesundheit denn eigentlich bestellt ist? Woran merken Sie, dass es Ihnen (nicht) gut geht, kennen Sie Ihre (Früh)Warnzeichen, wie reden Sie mit sich selbst, können Sie gut Zeit mit sich allein verbringen? Dies nur einige Beispiele, wie wir unserer eigenen mentalen Verfassung auf die Spur kommen können. Und sich im Anschluss fragen: Wie wäre es denn gut? Wo will ich denn hin? Was wäre für meine Familie, mein Team, meine Organisation, für uns als Gesellschaft gut?
Und nein, ich verlange nicht, dass jede:r von Ihnen nun zum Mental Health Advocate wird. Aber um etwas zu verändern, müssen wir bei uns selbst anfangen. Bei unserem eigenen Umgang – mit uns selbst, mit dem Thema, bei unseren Einstellungen und Handlungen. Wenn wir das Thema im Alltag leben und es andere sehen lassen, setzen wir wichtige Impulse und zeigen unserem Umfeld “Ich kümmere mich um meine mentale Gesundheit – und Du darfst das auch!”
Zur Autorin:
Dominique de Marné, geboren 1986, litt 15 Jahre unter psychischen Problemen. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und Psychologie, ist erfolgreiche Bloggerin und als Mental Health Advocate – als Botschafterin für seelische Gesundheit – unterwegs. Außerdem betrieb sie eine Zeit lang mit Freunden das erste Mental-Health-Café in Deutschland.
Weitere Infos: www.mentalhealthcrowd.de
Hinweis:
Dominique de Marné ist am 26. Juni 2024 um 19.30 Uhr bei der Podiumsdiskussion “Die Bürger:innen- und Patient:innenperspektive in der Forschung – Entwicklung, Chancen und Grenzen” zu Gast an der Evangelischen Akademie Tutzing. Die Diskussion ist Teil der Tagung “Ach, Frau Doktor… Psychische Gesundheit in der Hausarztpraxis”, die vom 26. bis 27. Juni 2024 an der Akademie stattfindet. Alle Infos zum Programm und den Anmeldemodalitäten finden Sie hier.
Bild: Dominique de Marné (Foto: Arvid Uhlig)
Kommentare