Die 90er waren es, in denen das Internet seinen weltweiten Siegeszug angetreten hat. Heute, rund 25 Jahre später, lässt sich das Netz aus unserem Leben nicht mehr wegdenken. Unsere Gesellschaft und unser Alltag unterliegen einem rasanten Wandel und längst ist klar, dass die voranschreitende Digitalisierung Einfluss auf alle Lebensbereiche hat – auch auf die Bildung.
Was wir wissen, wie wir lernen und wann wir als gebildet gelten dürfen, ist nicht nur eine Frage persönlicher Fähigkeiten und entsprechender Zugangschancen. Es ist immer auch eine Frage der jeweiligen Zeit.
So war in der europäischen Tradition weit über ein Jahrhundert lang das von Deutschland gewissermaßen exportierte Erfolgsmodell der Humboldt’schen Bildung das Ideal. „Deutsche Bildung“ hatte einen guten Klang und meinte allumfassende Bildung, die das Ziel hatte, „so viel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln“ – sich also möglichst umfassend an der Welt und ihren großen Themen abzuarbeiten und sich in diesem Prozess als Individuum zu entfalten. Eine Allgemeinbildung, die Schulung in den Künsten und den Naturwissenschaften umfasst, die Entwicklung von Urteilskraft sowie die Fähigkeit, das eigene Leben zu gestalten sind genauso Schlagworte dieses Ideals wie Weltbürgertum und Mündigkeit.
Schon damals grenzte Wilhelm von Humboldt sein Konzept von dem bis dahin vorherrschenden utilitaristischen, also auf Nützlichkeit für den Beruf hin ausgerichteten Bildungsverständnis ab. Genau dieses war es jedoch, das sich im Zuge der Globalisierung und mit dem Beschluss der Bologna-Reformen Ende der 90er Jahre wieder seinen Platz in Köpfen, Schulen und Universitäten eroberte. Fortan ging es um eine schnelle und praxisorientierte (Aus-)Bildung, um die Vermittlung von Wissen, das sich an den Bedürfnissen des Marktes orientierte, um Messbarkeit von Leistung in einem genormten Bewertungssystem und die internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse. Sucht man Deutschland heute in Pisa-Tests, Rankings und internationalen Vergleichen, wird man eher auf den hinteren Rängen fündig – von Vorbildcharakter keine Spur mehr.
Die rasch voranschreitende Digitalisierung und die daraus resultierenden Umwälzungen werfen nun erneut und dringlicher denn je die Frage auf, wie Bildung in Zukunft aussehen muss, damit der Mensch den anstehenden Herausforderungen gewachsen ist.
Dazu gehört fraglos, die Bildungseinrichtungen technisch auszustatten, das Lehrpersonal entsprechend zu schulen und Programmieren in den Lehrplan aufzunehmen. Dadurch werden technische Fähigkeiten gefördert, die notwendig sind, um auf dem Arbeitsmarkt und in der Lebenswelt der Zukunft bestehen zu können. Der oft verschobene, nun beschlossene Digitalpakt der Bundesregierung ist dabei sicher ein erster notwendiger Schritt in die richtige Richtung. Aber ist es mit solcherlei Maßnahmen getan?
Jack Ma, der Gründer der chinesischen Alibaba Group, einer Gruppe von erfolgreichen Internet-Unternehmen, sorgte vor einigen Wochen mit seiner Skizze zukünftiger Bildung für Aufregung in den Sozialen Netzwerken: Vor dem Hintergrund von Künstlicher Intelligenz und wachsender Automatisierung sei Bildung eine riesige Herausforderung. Wenn wir nicht veränderten, wie wir unsere Kinder unterrichten und was wir ihnen beibringen, würden wir in 30 Jahren vor gewaltigen Problemen stehen. Denn die bisherige Form der Bildung sei wissensbasiert. Und wir könnten unseren Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren, die schlauer sind als sie. Lehrer müssten deshalb aufhören, lediglich Wissen zu vermitteln. Kinder sollten etwas Einzigartiges lernen, das Maschinen sich nicht aneignen können, z.B. Werte, Überzeugung, selbstständiges Denken, Teamwork und Mitgefühl. Dies alles seien jedoch Dinge, die nicht durch Wissensvermittlung beigebracht werden können, weshalb Kinder stattdessen verstärkt in Fächern wie Sport, Musik, Malerei unterrichtet werden müssten. Alles, was wir unseren Kindern beibringen, sollte anders sein als das, was Maschinen können – so Jack Mas Fazit.
Die Feststellung, die aktuelle Lehre bezöge sich ausschließlich auf Wissen, ist wohl eine zugespitzte. Doch liest man die obige Ausführung, fühlt man sich schnell an das Humboldt’sche Bildungsideal erinnert. Mas Entwurf scheint sich dabei jedoch noch radikaler vom „Nützlichkeitsdenken“ zu verabschieden. Bildung soll nicht nur nicht auf die Bedürfnisse der Berufe und des Marktes ausgerichtet sein, sie soll ihnen etwas grundsätzlich anderes entgegensetzen.
In seiner Argumentation bezieht sich der Unternehmer vor allem auf den Arbeitsmarkt der Zukunft. Und so nachvollziehbar Mas Überlegungen diesbezüglich sind, so eng ist der Blick. Schließlich geht es nicht nur um das eigene Bestehen angesichts unumkehrbarer, nicht beeinflussbarer Veränderungen im Kontext Arbeit 4.0. Die Umwälzungen, die die Digitalisierung hervorbringt, sind viel umfassender: Sie stellen uns vor die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Sollte es deshalb nicht zuallererst das Ziel von Bildung sein, Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben und dessen Bedingungen selbst zu bestimmen. Gerade trotz der rasanten Entwicklungen aktiv eine lebenswerte Zukunft gestalten zu können – für sich selbst und die Gesellschaft im Ganzen?
Neben (informations-)technischen Kenntnissen und Fähigkeiten sind dafür mit Sicherheit auch die Charakteristika der Humboldt’schen Bildung von Nöten: die Wahrnehmung der Komplexität der Welt und die kritische Abarbeitung an ihren großen Themen. Die Entwicklung von Urteilskraft, die einen dazu befähigt, das eigene Leben unabhängig vom Diktat anderer (beispielsweise mächtiger Internetkonzerne) zu führen. Weltläufigkeit und das Erkennen von Zusammenhängen sind hilfreich, genauso wie Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Sollte also für die Bildung in Zukunft „Humboldt reloaded“ gelten? Ist das ein Ansatz, der 200 Jahre nach seiner Entwicklung wieder ein internationaler „Verkaufsschlager“ werden könnte? Exportweltmeister ist Deutschland ja…
Gerade entsteht das neue Jahresprogramm der Evangelischen Akademie Tutzing. Das angerissene Thema wird in einer Tagung seinen Niederschlag finden. Details dazu ab Juni auf www.ev-akademie-tutzing.de.
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