Ungleichheit hilft Putin: Der Westen kann sich nicht einzig mit Waffen verteidigen – er muss auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen.
Von Roger de Weck
Freiheit sei die “Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür”, schrieb 1797 Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung. Am Anfang der Aufklärung steht der Zweifel. Die liberale Demokratie, Kind dieser Aufklärung, muss nur schon deshalb jede politische oder wirtschaftliche Übermacht bekämpfen, weil Machtmenschen kaum zweifeln: Ob transnationale Wirtschaftsführer oder nationalistische Anführer – viele sind unbelehrbar und pachten die Wahrheit. Demgegenüber sollte die liberale eine lernende Demokratie sein, also selbstkritisch ihre Schwächen ausbessern.
Zur Liberalität gehört fundiertes Zweifeln, dann fundiertes Handeln. Und wer handelt, ist optimistisch: Er glaubt an den Fortschritt, jedenfalls an kleine Fortschritte, sonst bliebe er untätig. Doch die Autoritären, die das große Wort führen, sind rückwärtsgewandt. Diese Reaktionäre reagieren. Sie verkörpern die andauernde Reaktion auf die epochale Aktion, die in der Geistesgeschichte Aufklärung heißt. Und die bis heute in schönster “Geistesgegenwart” zweifelt, fragt, forscht, debattiert, lernt, entdeckt und entwickelt, also der Liberalität verpflichtet bleibt. Das können nur eigenständige Menschen leisten, mündige Bürgerinnen und Bürger. Ohne es für die absolute Wahrheit zu halten, nehmen sie das Wissen der Wissenschaften ernst: jetzt zum Beispiel die Erkenntnisse der Klimaforscherinnen und Klimaforscher.
Nochmals, was bedeutet Liberalität? Eine Antwort gab der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde: “Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Der 2019 verstorbene Staatsrechtler betonte, das Gedeihen der Demokratie hänge von der “moralischen Substanz” der Bürgerinnen und Bürger ab, von ihrem “staatstragenden Ethos” der Toleranz und Achtung der Vielfalt, vom entsprechenden Wir-Gefühl – in den Worten des Staatsdenkers Montesquieu vom esprit général, der allgemeinen Geisteseinstellung.
Autoritäres schwingt in der Luft. Im Zweifel Zwang
Der derzeit herrschende esprit général sieht jedoch in jeder Widrigkeit, die unsere Gesellschaft ereilt, eine Malaise der Toleranz, eine Bredouille des Humanismus. Inzwischen ist es die Grundhaltung konservativer und mancher sozialdemokratischen Kräfte in Europa, “die Schrauben fester anzuziehen” – von den Populisten ganz zu schweigen, auch wenn sie sich als “Freiheitliche” bezeichnen. Autoritäres schwingt in der Luft. Im Zweifel Zwang. Unsere Demokratie sei zu liberal, unsere Gesellschaft zu offen, die Festung Europa müsse gefestigt werden. So der anschwellende Grundton. Liberalität sei nicht rabiat genug – “Liberalität ist Naivität”, heißt es rundum.
Rechts und teils links der Mitte läuft ein – mehr zynischer als ernsthaft realpolitischer – Machtdiskurs der Rückkehr zur Strenge. Wer “sich den Grundregeln unserer Gesellschaft verweigert”, den solle man “härter bestrafen”: Selbst der sozialliberale Politologe Yascha Mounk wetterte gegen die “Strafmilde” in einigen europäischen Ländern – als bringe die amerikanische Strafhärte irgendeinen Vorteil.
Es ist eine selbstverständliche Pflicht, entschlossen gegen Gewalttäter aller Couleur vorzugehen, seien sie Identitäre, seien sie Islamisten. Aber die Reaktionäre und etliche Konservative hämmern uns ein, unverantwortlich seien jene Zeitgenossen, die in Nathan dem Weisen keinen Multikulti-Naivling sehen wollen.
In ihrem Kampf der Kulturen (wider alles Fremde) und ihrem Kulturkampf (wider die liberale Demokratie) fordern Reaktionäre die geistig-amoralische Wende – damit alles erlaubt und jedes Mittel recht ist. Doch schon allein die Klimakrise zeigt, dass wir an einem „Weltethos“ (Theologe Hans Küng) oder wenigstens an einem europäischen Ethos arbeiten sollten. Bald zählt die Erde acht Milliarden Bewohner. Das erfordert mehr Rücksicht auf Mitmenschen und Nachfahren, mehr Umsicht im Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Politik ohne Moral ist noch verhängnisvoller als Moral ohne Politik
Doch im heutigen Zeitgeist gelten Ethos und Moral als naiv – oder despotisch. Moral ist durchweg Hypermoral, Übermoral, moralisierender Totalitarismus, Moralpolizei, Moralkeule, Moralpauke, Moralpredigt, Moralismus, Moralin, darunter geht es nicht. Und dieser Diskurs kommt umso besser an, als der Marktliberalismus den Eigennutz zur Tugend und die Rücksichtslosigkeit zu einem Freiheitsrecht erhoben hat.
Indessen ist Politik ohne Moral noch verhängnisvoller als Moral ohne Politik. Das zeigen der chinesische Totalitarismus, der Autoritarismus des wiedergewählten Erdogan, der Orbánsche Zynismus. Umso dringlicher ist es, die liberale Demokratie aktionsfähiger zu machen: einerseits damit sie sich in der Welt behauptet – und anderseits damit sie die Gesellschaft der Ungleichheiten ins Lot bringt, überdies die Natur zur “Teilnehmerin” an der Demokratie macht.
Im Kalten Krieg entstand die Soziale Marktwirtschaft. Sie sollte, ganz bewusst, den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern, auf dass möglichst wenig Benachteiligte und Unzufriedene zu den Kommunisten des “Ostblocks” überliefen.
Als der real existierende Sozialismus einbrach und das Ende des Kalten Kriegs nahte, verhärtete sich der Kapitalismus erst in der angelsächsischen Welt und bald auch auf dem europäischen Kontinent. Politik und Wirtschaft kümmerten sich je länger, desto weniger um das Gleichgewicht der Gesellschaft. Nunmehr war Sozialabbau angesagt. Die Bundesrepublik schuf im Zug der Hartz IV-Reformen Europas größten Niedriglohnsektor: einen Nährboden für die AfD der glühenden Putin-Bewunderer, heute mit linkem Relais bei Sahra Wagenknecht.
In der Machtprobe mit Russland und im Kräftemessen mit China ist es an der Zeit, dass die Politik wieder zur Zusammengehörigkeit in der Gesellschaft beiträgt – sonst wird der Westen noch mehr Putin-Freunde hervorbringen, die sich enttäuscht von der Demokratie abwenden. Ohnehin erforderte der Ukrainekrieg eine beschleunigte Umstellung der Energiepolitik – was industrielle Arbeitsplätze und einen Mehraufwand für die Haushalte kostet, also Missmut erregt.
Bürgerinnen und Bürger einbinden, ihnen Zukunftsperspektiven eröffnen
Vorrangige Aufgabe aller demokratischen Kräfte ist deshalb die Neulancierung einer ökosozialen Marktwirtschaft, die viel integrative Kraft entfaltet und gesellschaftlich wie ökologisch nach Balance strebt. Hier sind die Liberal-Konservativen besonders gefordert, so wie Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft ein liberal-konservatives Vorhaben war, kein linkes.
Damit Gestrige nicht die Zukunft kapern, muss die Demokratie modernisiert werden, um sie auf die Höhe des ökologischen und digitalen 21. Jahrhunderts zu bringen (dazu mache ich in meinem jüngsten Buch Die Kraft der Demokratie zwölf konkrete Vorschläge, bis hin zu einer Umweltkammer des Parlaments mit gewählten Umweltabgeordneten). Zu welchem Unfug veraltete demokratische Institutionen und Verfahren verleiten, zeigt ja das amerikanische Wahlsystem.
Nur eine zielstrebig und behutsam erneuerte Demokratie, die gestaltungskräftiger wird, kann mehr Bürgerinnen und Bürger einbinden, ihnen Zukunftsperspektiven eröffnen. Dazu bedarf es des Primats der Politik, um gegen den Widerstand eines Teils der Wirtschaft eine griffige Umwelt- und Sozialpolitik durchzusetzen.
Liberalität bedeutet, die liberale Demokratie zu stärken. Das ist die eigentliche Antwort auf die Autoritären – diese bloß zu kritisieren, reicht nicht, und sie zu imitieren, lässt die Demokratie erodieren. Zu den Prioritäten zählt dabei: mehr Solidarität. Denn die Erfahrung der wirtschaftsliberalen Jahrzehnte und zumal der US- Wahlen zeigt: Krasse Ungleichheit ist Gift für die Demokratie, denn sie schürt Ressentiments, sie spaltet die Gesellschaft.
Gefährlicher als die Lautstärke der Reaktionäre ist die Schwäche vieler Demokraten. Statt sich an die Rhetorik der Rückwärtsgewandten anzulehnen, sollten Konservative, Liberale und Linke an der ökosozialen Demokratie von morgen arbeiten.
Zum Autor:
Der Publizist Roger de Weck leitet den Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Er ist Gastprofessor am College of Europe in Brügge. Er war ZEIT-Chefredakteur, Präsident des traditionsreichen Graduate Institute of International and Development Studies in Genf und Generaldirektor des Schweizer Radios und Fernsehens. Sein jüngstes Buch “Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre” ist 2022 bei Suhrkamp (erweiterte Taschenbuchausgabe) erschienen.
Hinweis:
Die nächste Tagung des Politischen Clubs findet vom 16.-18. Juni 2023 statt. Roger de Weck hat zum Thema “Demokratien und Diktaturen” eine Reihe hochkarätiger Gäste eingeladen – auch sein Vorgänger, Dr. Wolfgang Thierse, wird dabei sein. Informationen zu Programm und Anmeldemodalitäten finden Sie unter diesem Link.
Bild: Roger de Weck während des Politischen Clubs im März 2023 (Foto: Haist/eat archiv)
Kommentare