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Die (post-)koloniale Ukraine als historiographische Herausforderung

Zehn Thesen zur poskolonialen Situation der Ukraine aus der Sicht eines Historikers: Andrii Portnov, der die Professur für “Entangled History of Ukraine” an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) innehat, formulierte sie auf der Tagung Dekolonialisierung in Mittel-, Ost- und Südeuropa am 26. Juni 2023 in Tutzing.

Auf der eben vorübergegangenen Jahrestagung “Dekolonialisierung in Mittel-, Ost- und Südeuropa (eine Kooperation der Evangelischen Akademie Tutzing mit der Bundeszentrale für politische Bildung) wurde Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Erinnerung im östlichen Europa aus der Perspektive der Dekolonialisierung untersucht. Prof. Dr. Andrii Portnov, der die Professur für “Entangled History of Ukraine” an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) innehat, stellte auf dieser Tagung im Rahmen seiner Keynote zehn Thesen zur (post-)kolonialen Situation der Ukraine im europäischen Kontext aus Perspektive der Geschichtswissenschaften vor, die wir hier veröffentlichen.

Von Andrii Portnov

1. Sowohl der Aggressor – Russland – als auch sein Opfer – die Ukraine – berufen sich aktiv auf die postkoloniale Rhetorik. Im Falle Russlands richtet sich diese Rhetorik in erster Linie an die Länder des globalen Südens und impliziert erfolgreich antiamerikanische Sentiments.

2. In den aktuellen öffentlichen Debatten der Ukraine richtet sich die antikoloniale Rhetorik gegen Russland. Darüber hinaus scheint der Postkolonialismus heutzutage das einflussreichste, das dominierende Erklärungsmodell in der ukrainischen Geschichtsschreibung zu sein. In diesem Zusammenhang könnte man provokativ an die Fragen von Stephen Velychenko aus dem Jahr 2004 erinnern: “Wie kann die Ukraine gleichzeitig postkolonial und ‘europäisch’ sein?” und “Wie sollte die Ukraine auf die implizite antieuropäische Voreingenommenheit des Postkolonialismus reagieren?”

3. In der ukrainischen Geschichtsschreibung erlangte das Bild des Russländischen Reiches und seiner Politik gegenüber der Ukraine als “kolonial” besonders in den 1920er Jahren Einfluss. Das geschah insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten Nationalkommunismus und der sowjetischen Ukrainisierung. Dennoch wurde ein solcher Ansatz (vor allem im Bereich der Wirtschaftsgeschichte) beispielsweise 1963 in der “Slavic Review” von Ivan Lysiak-Rudnytsky kritisiert, der schrieb: “Der Begriff ‘Kolonialismus’, der aus dem marxistischen Arsenal entlehnt wurde, war nicht ganz richtig gewählt. Das zaristische Russland besaß zwar echte Kolonien, wie Transkaukasien und Turkestan, aber die Ukraine konnte nicht dazu gezählt werden. Die Regierung betrachtete die Ukraine vielmehr als zum Kern der ‘Heimatprovinzen’ des europäischen Russlands gehörend.”

4. Und was ist mit dem polnischen Kolonialismus? Heutzutage ist dieses Konzept in der polnischen Geschichtsschreibung nicht sehr populär und wird in der Ukraine nicht allzu sehr betont. Dennoch formulierte der emigrierte ukrainische Historiker Borys Krupnyckyj in den späten 1940er Jahren ziemlich deutlich die Bedeutung des Kolonialthemas in den historischen Beziehungen der Ukraine sowohl zu Russland als auch zu Polen. Er behauptete: “Die Ukraine war entweder eine Kolonie oder ein Staat”. Fußnote 1: Dieser Artikel wurde vor dem Erscheinen der von Jerzy Giedroyc herausgegebenen Zeitschrift “Kultura” geschrieben. Fußnote 2: In Russland gibt es noch immer keine “Kultura” und keinen Giedroyc.

5. Wie sollten wir mit dem Thema des österreichischen Kolonialismus und der etwas mehr als 100-jährigen Erfahrung der Westukraine unter der Herrschaft der Habsburger umgehen? Anna Veronika Wendland definiert Österreich-Ungarn treffend als “einen europäischen Sonderkolonialismus voller Ambivalenzen.” Doch trotz der bekannten Phrasen über Ostgalizien als “Halb-Asien” oder “europäisches Indien” wurde die Habsburger Monarchie dank der schönen Prosa von Juri Andruchowytsch und anderen zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller:innen in den 1990er Jahren zur symbolischen Verkörperung des “Europäertums” der Ukraine.

6. Der deutsche Kolonialismus gegenüber der Ukraine und im weiteren Sinne gegenüber Osteuropa ist dank der wertvollen Beiträge von Sebastian Conrad und anderen ein legitimes Forschungsthema. Man könnte sagen, dass dieses Thema zwar eine historiographische, aber keine öffentliche Zustimmung hat. Außerdem ist die Akzeptanz der postkolonialen Optik der Ukraine gegenüber Russland in Deutschland eher begrenzt. Warum ist das so?

7. Die Ukraine hat in den Augen der deutschen Gesellschaft immer noch keine unbestrittene kulturelle und historische Handlungskompetenz. Die Ukraine wird immer noch weitgehend als eine instabile Nation mit einem sehr starken und destruktiven Nationalismus wahrgenommen. Mit anderen Worten, für viele Deutsche wird die Ukraine durch die negative Mythologie von Bandera verkörpert, die stark an die sowjetische und russische Propagandaerzählung über den ukrainischen Nationalismus erinnert.

8. Wenn man sich die deutsche Ukraine-Debatte anschaut, kann man den klaren Eindruck gewinnen, dass der bedeutendste Ukraine-Experte unserer Zeit kein geringerer als Putin sei. Wir reden und denken über die Ukraine weitgehend in Putins Kategorien: “failed state”, “historische Rechte für die Krim”, “russischsprachige Bevölkerung mit Sehnsucht nach Russland”, “legitime Einflusszonen”… Mehr noch, die Verneinung könnte eine Form der negativen Akzeptanz sein. Selbst wenn sie Putins “historische” Fantasien entlarven, haben seine Kritiker unter den professionellen Historikern oft den Rahmen, die Rhetorik und die Sprache akzeptiert, die er vorgegeben hat.

9. Die bemerkenswerte Übereinstimmung (oder Konformität) des Mainstreams der westlichen Sowjet-, Russland- und Eurasienforschung mit den “historischen” Manipulationen Putins muss noch anerkannt und ernsthaft erforscht werden. Wie und warum kam die internationale imperiale Geschichte – auf der Flucht vor dem “methodologischen Nationalismus” – dem “methodologischen Imperialismus” (wie Darius Staliunas es ausdrückte) so nahe? Und gleichzeitig, wie konnte die postkoloniale Mode zu einer Wiederbelebung der nationalzentrierten Episteme werden?

10. Ukrainische Stimmen fehlen in internationalen historiographischen Debatten noch immer. Kürzlich hat Hennadii Korolov in einem kritischen Beitrag in „New Eastern Europe“ eine Reihe von kritischen Bemerkungen und Bedenken geäußert: “Wenn es um die Entkolonialisierung geht, haben die meisten Historiker:innen die Ukraine nicht berücksichtigt und stattdessen auf das theoretische und empirische Potenzial der Ukraine zur Erweiterung der osteuropäischen, russischen oder eurasischen Geschichtsschreibung geschaut”. Und weiter heißt es: “Die Ukraine wird gewöhnlich als multiethnische und multireligiöse Region betrachtet, aber nicht als politische oder kulturelle Einheit. […] Ich befürchte, dass die Ukraine wieder als Laboratorium für die Neugestaltung der russischen und eurasischen Studien im Kontext der Dekolonisierung behandelt wird, anstatt als Teil Ostmitteleuropas.” Ich denke, wir sollten diese Befürchtungen ernst nehmen und unser Bestes tun, damit die Sorgen von Hennadii nicht wahr werden.

 

Zum Autor:

Andrii Portnov, geboren 1979 in Dnipropetrowsk, ist Historiker und Publizist. An der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) hat er die Professur “Entangled History of Ukraine” inne. Er ist darüber hinaus Direktor des Recherchenetzwerks PRISMA UKRAЇNA Research Network Eastern Europe in Berlin.

 

Hinweis zum Kontext der Tagung:

Mit der Großinvasion Russlands am 24. Februar 2022 in die Ukraine wurden die lang verfolgten Absichten der imperialen Machtpolitik Putins für alle Welt sichtbar. Das Thema Dekolonisierung in Ost-, Mittel- und Südosteuropa rückte seitdem in vielen Ländern ins Zentrum der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Debatten. Auch das hierarchische Ost-West-Verhältnis in Europa findet unter dieser Perspektive eine neue, kritische Betrachtungsweise.

In den internationalen Osteuropawissenschaften werden (post-)koloniale Strukturen und Dynamiken bereits seit den 1990er Jahren verhandelt. Dabei geht es nicht nur um den russländischen Imperialismus: auch die deutsche Geschichte und die Expansionen nach Osten sowie die Tatsache, dass manche Gesellschaften von Kolonisatoren zu Kolonisierten wurden, werden in diesen Debatten wissenschaftlich erörtert.

Weitere Informationen zum Programm der Tagung finden Sie hier.

 

Dieser Blogbeitrag erscheint auch als Gastkommentar in der Juli-Ausgabe des Newsletters der Evangelischen Akademie Tutzing.

 

Bild: Andrii Portnov (Foto: Prisma Ukraina)

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