„Bei mir hast Du Kredit!“ Dieser im Sprachgebrauch eher verloren gegangene Ausruf drückt viel mehr aus als die Bereitschaft, einer Freundin oder einem Freund Geld zu leihen. Es ist ein Ausdruck von Vertrauen, Verbundenheit und Unterstützung – der weit über den Geldbeutel hinaus reicht.
Im Lateinischen wird ein und dasselbe Wort mit dem Glauben an Gott (in deum credere) als auch für das Verleihen von Geld an jemanden (alicui pecuniam credere) verwendet. Auch „anvertrauen“ wäre eine mögliche Übersetzung. Sinnvoll scheint es, nur dann mit einem Privatkredit einem Bekannten auszuhelfen, wenn man sich auch eine Schenkung des Betrags vorstellen könnte – so zerstört eine womöglich ausbleibende Rückzahlung keine Beziehungen.
Dass eine Bank mit einem neuartigen Modell der Kreditvergabe, das auf sozialen Beziehungen beruht, den Friedensnobelpreis erhalten würde, konnte sich bis zum Jahr 2006 wohl kaum jemand vorstellen. Dann entschied sich das Nobelpreiskomitee für Muhammad Yunus und die von ihm gegründete Grameen Bank (bengali: „Bank des Dorfes“) in Bangladesch. Yunus Idee war es, einen Kredit nicht einfach als Transfer von Geld zu verstehen mit schriftlich vereinbarten Bedingungen wie materielle Sicherheiten (wie wir es mit der Hypothek bei einem Hauskredit kennen) sondern als Geldbetrag auf Basis von Zutrauen an eine feste, kleine Gruppe von Kreditnehmern. Die einzelnen Kreditbeträge innerhalb der Gruppe werden in einer festgelegten Reihenfolge in Abhängigkeit der Rückzahlungen der Erstempfänger vergeben: So kann beispielsweise eine Selbsthilfegruppe aus alleinerziehenden Frauen eine kleine Schneiderei gründen und Schuluniformen für die örtliche Schule nähen. Oder eine Familie eröffnet ein kleines Lebensmittelgeschäft in einem Armenviertel ein.
Die Vergabe von Krediten an kleine Gruppen setzt Anreize, dass sich die Gruppenmitglieder gegenseitig unterstützen und die Zins- und Tilgungszahlungen überwachen. Keinerlei andere Wertgegenstände werden als Sicherheit für die Kreditvergabe verlangt. Wenn also die Kreditwürdigkeit aufgrund der Einschätzung des erwarteten Einkommens erfolgt und nicht auf Basis vorhandenen Vermögens, sind auch die Ärmsten kreditwürdig. So konnte fast jeder und jede mit einer Geschäftsidee eine kleine Summe zu (in Entwicklungsländern) relativ günstigen Zinsen von acht bis zwölf Prozent erhalten – eben von Mikrofinanzinstitutionen wie der Grameen Bank: Ein neuer, wirksamer Weg der Armutsbekämpfung mit einer sozialen Idee war gefunden. In Kambodscha fiel der Anteil der unterhalb der nationalen Armutslinie lebenden Menschen zwischen 2004 und 2017 von 48 Prozent auf weniger als 14 Prozent .
Der Erfolg mithilfe von Mikrokrediten nach dem Vorbild von Muhammad Yunus war vielschichtig:
- Frauen bekamen so eine Möglichkeit, sich von traditionellen Rollen zu emanzipieren. Sie erlebten berufliche Selbstwirksamkeit und die Möglichkeit sich unabhängig von Männern bzw. der Familie eine Existenz und auch Altersvorsorge aufzubauen. In den ersten Jahren waren sogar 97 Prozent der Darlehensnehmer der Grameen Bank Frauen.
- Für die Armutsbekämpfung stand nun ein wirksameres Mittel zur Verfügung als Entwicklungshilfegelder, welche oft Korruption befördern und das lokal vorhandene Potenzial an Sozialkapital verdrängen. Dies hat die ehemalige Mitarbeiterin der Weltbank, Dambisa Moyo, in ihrem Buch „Dead Aid“ schon 2009 mit Blick auf Afrika eindrücklich beschrieben. Die aktuelle Nobelpreisträgerin für Wirtschaft, die Armutsforscherin Esther Duflo, kommt auf Basis vieler Feldstudien seit 2003 zu dem Ergebnis, dass die Entwicklungshilfeindustrie sich oft selbst erhalte während mithilfe von Mikrokrediten zumindest die Armut wirksam bekämpft werden könne – auch wenn Kleinstkredite darüber hinaus nur kleine und unsichere Effekte für das Wirtschaftswachstum haben (ZDF-Nano-Beitrag).
- Den Machenschaften von Kredithaien in Entwicklungsländern mit Wucherzinsen und Repressalien bar jeder Legalität konnte eine Alternative entgegengesetzt werden: Der Anteil der informellen Geldverleiher sank in Kambodscha zwischen 2004 und 2017 von 32 Prozent auf sechs Prozent (Artikel nachlesen).
Diese Vorteile ließen über die Jahre eine Branche mit immer mehr Anbietern wachsen – die Rückzahlquote lag schließlich bei über 90 Prozent. Gerade auch europäische Akteure und Anleger boten sich als mittelbare Kapitalgeber an. Im Zuge des Erfolgs erwuchs allerdings auch so manches Problem – die „economies of scale“ (Vorteile durch Größe) führten in diesem speziellen Wirtschaftszweig nicht zu höherer Effizienz, sondern zur Verwässerung der eigentlichen Ideen bis hin zu deren Pervertierung: So war es unter anderem die Deutsche Bank AG, die schon frühzeitig Mikrofinanzfonds auflegte, um bei deutschen Anlegern Gelder einzusammeln und es Mikrofinanzinstituten in Entwicklungsländern zur Verfügung zu stellen. Der Knackpunkt allerdings war dabei, dass eine möglichst hohe und planbare Rendite für die Geldgeber wichtiger war, als verantwortliche Kreditbedingungen in Form von angemessenen Zinsen für die Kreditnehmer. So wurde beispielsweise das Währungsrisiko zwischen Euro und Taka auf die Selbständigen in Bangladesch umgelegt, was zu variablen Zinsen für diese führte. Konkret bedeutete das, dass die Kreditzinsen für einen Kleinbauern, der sich mit einem Mikrokredit eine Hand voll Kühe kaufte, plötzlich auf 80 oder 90 Prozent pro Jahr steigen konnten, wenn die lokale Währung gegenüber dem Euro abwertete. Auch wenn es glücklicherweise Organisationen wie Oikocredit gibt, die den genossenschaftlichen Gedanken zugunsten der Kreditnehmer vor Ort auch bei der Gewinnung deutscher und internationaler Privatanleger umsetzen, führte so manche rein kapitalistisch, renditeorientierte Herangehensweise bei der Vergabe von Mikrokrediten den Urgedanken ad absurdum.
Wie ist die Lage heute? Bis 2020 ist der Gesamtwert des Portfolios aller Mikrofinanzinstitutionen auf 124 Milliarden Dollar angewachsen. Die Dienstleistungen sind komplizierter geworden und reichen über Versicherungen bis hin zu Leasing-Geschäften. Zudem verlangen manche profitorientierten Mikrofinanzinstitutionen Landnutzungsrechte als Sicherheit, falls die Zins- und Tilgungsraten eines Mikrokredits nicht beglichen werden könne. Dass Mikrokredite heutzutage sowohl Fluch als auch Segen sein können, zeigte Anfang des Jahres eine Weltspiegel-Reportage (zum Link).
In diese Zeit einer nicht perfekten aber wichtigen Erfolgsgeschichte der Idee von Mohammad Yunus platzt die Corona-Pandemie. Rückzahlungen von Mikrokrediten werden aus der Natur der Sache persönlich und mit Bargeld getätigt. Wenn bestehende Kreditnehmer weniger Rückzahlungen leisten, können die Mikrofinanzinstitutionen auch nicht weitere Kredite vergeben, so dass eine Kreditklemme droht. Tatsächlich hat derzeit fast ein Drittel der Mikrofinanzinstitutionen nicht genügend liquide Mittel, um in diesem Quartal die geplanten Auszahlungen zu tätigen (Link zu „Credit where it’s due“). Ohne den Zugang zu Mikrokrediten aber droht den Ärmsten der Armen bei Geldbedarf nur der Gang zu Kredithaien und Pfandleihern – Schuldenspiralen und gefährliche Abhängigkeiten sind vorprogrammiert.
In Ländern wie Deutschland erhalten Hypothekenbesitzer aufgrund der Corona-Pandemie meist problemlos mehrere Monate Aufschub für ihre Tilgungszahlungen von ihren Hausbanken, weil diese wiederum von staatlichen Institutionen und der Europäischen Zentralbank mit Krediten unterstützt werden. Eine ähnliche Unterstützung muss es jetzt auch für Mikrofinanzinstitutionen von internationalen Organisationen wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Weltbank geben. Es ist fatal, dass fast die Hälfte aller Mikrofinanzinstitute seit Beginn der Pandemie noch keine Gespräche mit ihren Geldgebern geführt haben. Wenn die Welt einen starken Anstieg der absoluten Armut in Folge der Corona-Pandemie vermeiden will, spielen die weniger im Rampenlicht stehenden Geldflüsse zum Erhalt von Kleinstkrediten in Entwicklungsländern eine wichtige Rolle. Es geht weltweit um 140 Millionen Kreditnehmer und um mindestens genauso viele Schicksale.
Gerade diese Menschen brauchen jenes „credere“, jenes Vertrauen, jene Verbundenheit und Unterstützung von uns in den Industrieländern, die über den Geldbeutel als Steuerzahler und etablierte internationale Institutionen führt. Dessen sollten wir uns bewusst sein, damit die Ärmsten der Armen wieder Kredit im umfassenden Sinne haben.
Das war mal wohltuend: ein elementares Thema einfach, allgemein verständlich und ohne Fachchinesisch zu Papier gebracht! It makes my day! Gratuliere, Herr Wassink!
Haben Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Worte, Herr Dr. Hoffmann! Das freut mich sehr! Vielleicht ist für Sie dann auch die kommende Tagung “Grünes Kapital? Investment auf dem ethischen Prüfstand” Ende Oktober interessant? Am Sonntagvormittag spricht Frau Bahner von Oikokredit über ihre Erfahrungen bei der Vergabe von Kleinstkrediten in Entwicklungsländern! Hier wären weitere Informationen zur Tagung: https://www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/gruenes-kapital-investment-auf-dem-ethischen-pruefstand/