„Schwierige Situationen zu ordnen und das wegweisende Wort zu sprechen, war eine seiner großen Stärken.“ Mit diesen Worten charakterisierte Tobias Bilz, soeben eingeführter Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Johannes Hempel, der am 23. April im Alter von 91 Jahren starb und von 1972 bis 1994 dieses Amt innehatte. Treffender lässt sich Hempel in einem Satz nicht beschreiben. Ich traue mir dieses Urteil zu, denn ich habe meine eigene Geschichte mit dem Landesbischof.
Wie es dazu kam? Anfang 1995 fragte der damalige Direktor des Lutherischen Verlagshauses in Hannover, Gerhard Isermann, bei mir an, ob ich bereit wäre, ein Gespräch mit Johannes Hempel zu führen. Dieses sollte als Buch erscheinen. Isermanns Idee, die Lebenserinnerungen des Bischofs herauszugeben, ließ sich nicht wie geplant umsetzen. Ein zwanzigseitiges Manuskript aus der Feder Hempels erfüllte nicht die Kriterien. Und da ich ein im Konzept ähnliches Projekt mit dem früheren Lübecker Bischof Ulrich Wilckens in seinem Verlag realisierte – er war bundesweit bekannt geworden, als er die Predigt zum Tode des unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen Ministerpräsidenten Uwe Barschel hielt –, traute er mir das Vorhaben zu.
Ich bin nach langem Zögern der Bitte gefolgt, die Rolle des Gesprächspartners von Bischof Hempel zu übernehmen. Ich war mit dem Leben in der DDR halbwegs vertraut: Meine Frau – als ehrenamtliche Ost-West-Referentin des Landesjugendkonvents der Evangelischen Jugend in Bayern – und ich – als stellvertretender Vorsitzender dieses Gremiums – besuchten in den achtziger Jahren mehrmals im Jahr die DDR, vor allem die sächsische Landeskirche. Unvergessen sind die Begegnungen zu Ostern in Dresden zwischen Jugendlichen aus der Bundesrepublik und aus der DDR. Unvergessen sind die Diskussionen, aus denen die Westdeutschen den Eindruck gewannen, sie nähmen mehr mit nach Hause als sie mitbrachten. Unvergessen sind auch die Begegnungen mit dem Initiator der Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ – dem damaligen Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider. Und schließlich: Unvergessen ein mehrwöchiges Gemeindepraktikum – im Rahmen meiner theologischen Ausbildung – in der sächsischen Landeskirche unter der Leitung Bretschneiders. Im Lichte dieser Erfahrungen hatte ich einen Eindruck von der Persönlichkeit Hempels, den ich damals auch mehrfach als Prediger erlebte.
Als mich die Anfrage Isermanns erreichte, war ich Redakteur der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“. Würde Johannes Hempel mich als Gesprächspartner akzeptieren? Der damalige hannoversche Landesbischof Horst Hirschler – die beiden Landeskirchen waren partnerschaftlich verbunden – empfahl mich Hempel. Und dies tat auch der badische Landesbischof Klaus Engelhardt, damals zugleich Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Einer, der jedes Wort abwägt
Tatsächlich ließ sich Johannes Hempel auf das Projekt ein. Eine Woche lang saßen wir im Sommer 1995 Tag für Tag im Hause des Bischofs in Dresden zusammen. Die Tonbandaufnahmen umfassen fast dreißig Stunden. Hempel zog ausführlich Bilanz, sprach über Erlebnisse aus Kindheit und Jugend, sein Studium im Westen, die Rückkehr in die sächsische Landeskirche, die Übernahme des Bischofsamtes, den Weg der evangelischen Kirche in der DDR, ihre Rolle und auch seine eigene im Herbst 1989, über Vorwürfe wegen kirchlicher Stasi-Verstrickungen, den Stellenwert des Protestantismus im wiedervereinigten Deutschland, zur Zukunft des ökumenischen Dialogs sowie zum christlichen Selbstverständnis, Gesellschaft mitzugestalten.
In der Begegnung erlebte ich einen äußerst bescheidenen Zeitgenossen. Einer, der jedes Wort abwägt, immer druckreif spricht. Und von einem Ernst geprägt ist, dass man sich einhören muss, den hintergründigen Humor zu erspüren, der auch zu seinem Wesen gehörte. Die Gespräche waren nicht leicht. Meinen Fragen folgte nicht selten erst einmal eine Phase des Schweigens, ehe der Bischof antwortete. Und seine Antworten quittierte ich wiederum oft ebenfalls mit Schweigen. Wir haben einander zugehört, – unbequeme – Rückfragen gestellt, Gegenargumente vorgetragen und diskutiert sowie gemeinsame „Aha“-Erlebnisse gehabt. Es brauchte Zeit, um einander zu verstehen, Verständnis für das Gegenüber aufzubringen, kontroverse Meinungen stehen zu lassen, und am Ende doch zu merken: Die Verständigung zwischen Deutschen aus West und Ost kann gelingen. Es gab keine Tabuthemen, auch wenn das Schweigen mitunter quälend war und sich in den stummen Blicken und artikulierten Rückfragen Unverständnis meldete, warum gerade dieses oder jenes Thema die Auseinandersetzung lohnen sollte.
Um sich ein Bild des Bischofs zu machen, genügt allein ein Blick auf die biografischen Daten: Johannes Hempel, geboren am 23. März 1929 in Zittau, studierte zwischen 1947 und 1949 Germanistik, Philosophie und Geschichte in Tübingen, von 1949 bis 1951 Germanistik, Philosophie, Geschichte und Theologie in Heidelberg und 1952 Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf. In diesem Jahr kehrte er in die DDR zurück und legte in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens das Erste Kirchliche Examen ab. 1956 heiratete er, legte das Zweite Kirchliche Examen ab und übernahm die Pfarrstelle in Gersdorf (Kirchenbezirk Glauchau). 1958 wechselte er als Studieninspektor an das Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig. 1963 promovierte er zum Dr. theol. in Leipzig. Zwischen 1963 und 1967 war er Studentenpfarrer in Leipzig, danach, bis zu seiner Wahl zum Landesbischof der sächsischen Landeskirche im Jahre 1972, Studiendirektor des Predigerkollegs St. Pauli in Leipzig. 1975 wurde er in den Zentralausschuss sowie in den Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) gewählt. 1981 übernahm er das Amt des Leitenden Bischofs der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELK) in der DDR. Ein Jahr später wurde er Vorsitzender der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR. Von 1983 bis 1991 war er Mitglied des ÖRK-Präsidiums. Seit 1991 gehörte er dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an und war stellvertretender Ratsvorsitzender. Am 26. März 1994 wurde Johannes Hempel aus dem Dienst als sächsischer Landesbischof verabschiedet.
Das Buch, so war das gemeinsame Ziel, wollte einen Beitrag zum inneren Zusammenwachsen der deutschen evangelischen Kirchen und darüber hinaus zur Herstellung der inneren Einheit der Deutschen leisten. Ein hoher Anspruch, gewiss. Der Ratsvorsitzende Engelhardt hat den Band, der unter dem Titel „Annehmen und frei bleiben“ 1996 erschien, als das „ehrlichste Buch unter den vielen kirchlichen autobiographischen Zeugnissen“ bezeichnet.
Im Dezember 2003 haben wir uns noch einmal zum Gespräch verabredet. Die Evangelische Verlagsanstalt Leipzig hatte die Idee, uns anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstags des Bischofs erneut zusammenzubringen. Entstanden ist der Band „Erfahrungen und Bewahrungen“. 2004 erschienen, dokumentiert er den Dialog aus dem Jahre 1995 sowie die Fortsetzung unseres Gesprächs.
Theologe – und Literaturexperte
Bei der erneuten Lektüre bin ich auf eine Antwort Hempels gestoßen, in der sich seine Haltung zeigt. Ich fragte ihn vor dem Hintergrund der These Samuel Huntingtons, der einen „clash of civilisations“, einen Zusammenprall der Völker und Kulturen prognostizierte, was diese Gemengelage für die Zukunft der Menschheit bedeute und wo die Kräfte zu finden seien, die wenigstens mäßigend wirken könnten. Seine Antwort: „Wer kann das voraussagen? Meine Lebenserfahrung ist, dass Gott, ehe die absolute Katastrophe passiert, seinen Finger dazwischen hält. Dass also die Regierungen der Völker sozusagen im letzten Moment vernünftig einlenken oder/und dass Umstände eintreten, die die Rückkehr zur Vernunft erzwingen. Wir leben von Aufschub zu Aufschub. In den Phasen zwischen den Aufschüben werden wir alles tun müssen, das zum Guten beiträgt. Aber das wird nicht immer ausreichen. Dann muss Gott seine Hand dazwischen halten.“
Johannes Hempel war nicht nur theologisch versiert, sondern auch ein Literaturexperte. Ernest Hemmingways Novelle „Der alte Mann und das Meer“ faszinierte ihn zeitlebens. Die Novelle sei eine Deutung des Daseins, die jeden Menschen irgendwie betrifft, analysierte der Bischof. „Da ist der Lebensraum und wie ihn der Mensch nutzt. Da ist der Kampf, den dieses Nutzen mit sich bringt. Da sind Erfolg und Niederlage, und darin ist der Mensch, ein Mensch, die Hauptfigur. Chaos, List, Betrug, aber auch die Hoffnung hat ihren Platz im Leben dieses einen Menschen. Die Geschichte bleibt offen. Der alte Mann geht nach dem Anlanden im Hafen in sein Haus, weil er müde ist. Er legt sich auf sein Bett und deckt sich mit der Zeitung zu. Der Knabe, der ihm am Morgen den Kaffee bringt, weint. So steht die Frage auf: Der schlafende Alte und der weinende Junge, was wird daraus? Am Anfang wurde mitgeteilt, der alte Mann sei unglücklich und erfolglos. Gegen Ende der Erzählung lesen wir, dass alles an dem Mann alt sei, nur nicht die Augen, sie hätten die Farbe des Meeres. So weit, erstaunlich weit, ist ein Dichter ohne Christus im Deuten seines Lebens gekommen. Es bleibt aber die Frage an Hemmingway, ob denn die Hoffnung in dem alten Mann wirklich tragen wird? Für Hemmingway selbst war es wohl nicht so. Ich kann mir jedenfalls eine tragende Lebenshoffnung ohne Christus nicht vorstellen. Insofern ist diese Geschichte nie zu Ende.“
Johannes Hempel für eine Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing zu gewinnen, ist mir leider nicht gelungen. Seine Kräfte reichten dafür nicht mehr. Umso dankbarer bin ich für die Gespräche mit ihm, von denen ich auch heute noch zehre.
Udo Hahn ist Pfarrer und leitet die Evangelische Akademie Tutzing.
Bild: Der Band „Annehmen und frei bleiben. Landesbischof i.R. Johannes Hempel im Gespräch“ (208 Seiten) erschien 1996 im Lutherischen Verlagshaus Hannover. Der Band enthält neben dem Geleitwort des Leitenden Bischofs der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Horst Hirschler, auch zahlreiche Predigte und weitere Texte Hempels. (Foto: eat archiv)
Hinweis: In der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig ist 2004 „Erfahrungen und Bewahrungen. Ein biographischer Rückblick im Gespräch mit Udo Hahn“ (364 Seiten) erschienen. Das Geleitwort schrieb der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber. Neben einem Bildteil, weiteren zentralen Texte des Landesbischofs, haben auch Weggefährten wie etwa Volker Kreß, Klaus Engelhardt, Hartmut Löwe und Kurt Nowak Beiträge beigesteuert.
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