Vor 70 Jahren fand der Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter in der DDR statt. Es kam zu Protesten und Streiks, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Die Aufarbeitung der Ereignisse ist lange noch nicht abgeschlossen – und wäre doch so nötig. “Es ist an der Zeit, den 17. Juni als einen wichtigen Teil deutscher und europäischer Demokratie- und Widerstandsgeschichte zu begreifen und an die Opfer zu erinnern.”, meint Akademiedirektor Udo Hahn in seinem Gastkommentar für die Bayern 2-Sendung “Zum Sonntag”.
Sendetermin: Samstag, 17. Juni 2023 um 17.55 Uhr auf Radio Bayern 2
Von Udo Hahn
Der Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit hat Menschen schon immer motiviert, gegen Einschüchterung und Unterdrückung aufzubegehren. Das verhalf der demokratischen Revolution 1848 in Berlin zum Erfolg. 175 Jahre liegt das zurück. Neben der März-Revolution wird heuer auch der Deutschen Nationalversammlung gedacht, die nur wenig später – am 18. Mai 1848 – erstmals in der Frankfurter Paulskirche zusammengetreten ist, um eine freiheitliche Verfassung für ganz Deutschland zu erarbeiten. Die Entwicklung seither ist nicht geradlinig verlaufen, sondern von dramatischen Rückschlägen geprägt: von der Diktatur des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 und der Diktatur der DDR zwischen 1949 und 1989.
Heute ist es genau 70 Jahre her, dass sowjetische Panzer den Aufstand vom 17. Juni 1953 gewaltsam beendeten. Rund um diesen Tag protestierten gut eine Million Menschen in der DDR. In zahlreichen Städten und Betrieben wurde gestreikt, um gegen wirtschaftliche, soziale und politische Missstände zu demonstrieren. Der Volksaufstand oder Arbeiteraufstand, wie er auch genannt wird, breitete sich rasch aus. Gefordert wurden der Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. Auch der Ruf nach der deutschen Einheit wurde laut. Mindestens 55 Menschen kamen dabei ums Leben oder wurden von der DDR-Justiz zum Tode verurteilt. Mehr als 15.000 Bürgerinnen und Bürger waren inhaftiert und Tausende zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In der Folge baute die DDR ihr System der Unterdrückung in allen Bereichen der Gesellschaft massiv aus, damit sich ein solcher Aufstand nicht mehr wiederholt.
In der jungen Bundesrepublik wurde der 17. Juni ab 1954 als “Tag der deutschen Einheit” und “Symbol der deutschen Einheit in Freiheit” zum ersten Staatsfeiertag gemacht. In der DRR war es der Propaganda gelungen, den Volksaufstand zum “faschistischen Putschversuch” umzudeuten. Mit der Vereinigung Deutschlands 1990 und der Festlegung, dass nun der 3. Oktober als “Tag der Deutschen Einheit” begangen wird, ist die Erinnerung an den 17. Juni weiter in den Hintergrund getreten. Sie war schon zuvor in der Bundesrepublik verblasst. Die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung hatte sich mit der deutschen Teilung längst abgefunden, die Zweistaatlichkeit schien unveränderlich. Auf öffentliche Gedenkfeiern war verzichtet worden. Übrig blieb: ein arbeitsfreier Tag im Frühsommer.
Es ist an der Zeit, den 17. Juni als einen wichtigen Teil deutscher und europäischer Demokratie- und Widerstandsgeschichte zu begreifen und an die Opfer zu erinnern. Über Jahrzehnte wurden ihre Namen totgeschwiegen. Die Aufarbeitung der Ereignisse ist noch lange nicht abgeschlossen. Vieles ist noch unerforscht. Dies gilt für die Vorgeschichte, aber auch, was die Ereignisse des 17. Juni in den ländlichen Regionen bewirkten, nicht nur in den Städten. Welche Rolle Frauen spielten und “normale” Demonstrierende sowie Unbeteiligte, aber auch die Kirchen.
Licht ins Dunkel bringen könnten Projekte an Schulen, in denen Schülerinnen und Schüler sich auf Spurensuche begeben. Und beispielsweise ältere Familienmitglieder befragen, was genau und wie sie die Ereignisse damals und ihre Folgen erlebten. So könnte eine Lücke in der Zeitgeschichtsforschung endlich geschlossen werden.
Dabei würden auch neue Vorbilder entdeckt. Menschen, die Haltung zeigten und Zivilcourage an den Tag legten, indem sie gegen Einschüchterung und Unterdrückung aufbegehrten. Das Wiederaufleben autokratischer und autoritärer Regime weltweit sowie wachsender Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus zeigen, dass Freiheit und Selbstbestimmung nicht selbstverständlich sind. Deshalb ist die Erinnerung an den 17. Juni 1953 auch heute noch wichtig.
Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.
Hinweis:
Vorliegender Text ist als Gastkommentar für die Sendung “Zum Sonntag” von Radio Bayern 2 erschienen.
Sendetermin: 17. Juni 2023 / 17.55 Uhr. Unter diesem Link können Sie die Sendung nachhören.
Bild: Pfr. UdoHahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Haist/eat archiv)
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