Studienleiterin Julia Wunderlich ist fasziniert von der Frage, wie und warum Menschen mit Widersprüchlichkeiten unterschiedlich umgehen. Fünf Jahre nach dem ersten, coronabedingten, Lockdown in Deutschland plädiert sie für ein Innehalten und für ein gemeinsames Nachdenken über das, was ambige Zeiten mit uns machen und gemacht haben.
Von Julia Wunderlich
Schon lange hat mich die Ambiguitätstoleranz fasziniert: die Frage, wie gut man Widersprüche aushalten kann, Unterschiede vielleicht sogar miteinander verbinden und damit umgehen kann. Und die Frage, warum und wie auf Fakten höchst unterschiedlich reagiert wird. Das ist die knappe Definition von Ambiguitätstoleranz. Unterschiedliche Bewertungen und Meinungen des Gleichen machen den Menschen aus. Und faktische Widersprüche machen wiederum die Welt aus. Die Fähigkeit, damit umzugehen, ist einerseits eine feste Eigenschaft und andererseits trainierbar – und damit veränderbar. Es liegt also in unserer Macht, zu entscheiden, wie man auf die Weltlage reagiert und damit umgeht. So wirkt die Psychologie des Politischen.
Die kleine Welt um einen, also die fünf Menschen, mit denen man sich am meisten umgibt, prägen einen stark, so der US-amerikanische Autor und Motivationstrainer Jim Rohn. Von diesen fünf Wesen übernimmt man unter anderem auch Wesenszüge. Sie prägen somit Fähigkeiten wie Geduld, Achtsamkeit, Gelassenheit. Und damit prägen sie auch die Fähigkeit, wie man auf Widersprüche reagiert, ob eben mit Geduld, Achtsamkeit, Gelassenheit oder vielleicht sogar mit Interesse und Lust, etwas Neues verstehen zu wollen. Es kann auch sein, dass man Widersprüchen gegenüber ablehnende Tendenzen entwickelt und alles, was unklar erscheint, vermeidet oder es Angst, Ärger, Wut oder Stress auslöst.
Ambiguitäten in der Pandemie
Die Szenen der Pandemie, in denen man mit Maske und Abstand in der Warteschlange beim Bäcker stand und selbst die Blicke auf Abstand gingen kommen einem lange her vor – zum Glück. Diese Zeit ist vorbei. Aber: Sie ist noch nicht aufgearbeitet. Sie ist noch nicht aus den Köpfen und erst recht nicht aus den Herzen. Zu groß war der Schrecken, dass so etwas passieren kann. Dass plötzlich alles Gewohnte nicht mehr gewohnt abläuft. Vor fünf Jahren gab es die ersten Fälle von Covid-Infektionen in Deutschland. Darauf folgten die politischen Reaktionen mit der Pandemie. Es kam zum ersten Lockdown, einer Situation, in der die Menschen nur noch zum Sport, zum Einkaufen, Arbeiten und zu Besuchen von Arztpraxen das Haus verlassen durfte. Das wiederum fühlt sich weniger lange her an. Was sind schon fünf Jahre?
Etwas Ungewohntes ist passiert, das den Alltag der Menschen auf den Kopf gestellt hat. Und selbst wenn die Pandemie nun geendet hat, schwirrt vielen noch der Kopf. Es ist klar geworden: Wir brauchen Zeit zum Innehalten und zur Reflexion. Auch Zeit für Trauer ist geboten. Trauer darüber, dass viele Menschen ihre Lieben verloren haben und in deren letzten Minuten aufgrund der Covid-Auflagen nicht anwesend sein durften, ihnen nicht ein letztes Mal die Hand halten konnten. Auch das waren Widersprüche, die es auszuhalten galt: einerseits das Einhalten der neuen Regeln zum Infektionsschutz und andererseits das Bedürfnis, Abschied von den Lieben zu nehmen. Konnte und kann so ein Widerspruch überhaupt gut ausgehalten werden?
Es ist nur ein Beispiel von vielen Szenen, die die Menschen und damit die Gesellschaft in den letzten Jahren prägten. Mir scheint, in Talkshows, medialen Berichten oder Dokumentationen fanden sie zu wenig Beachtung. Die Welt drehte sich weiter, neue herausfordernde Situationen, wie die Inflation, die Veränderungen in den USA, der Krieg in der Ukraine kamen. Wir kennen sie alle, die aktuelle Weltlage.
Was aber, wenn sich die Filterblasen und Echokammern, die Kreise, in denen man sich aufhält, verkleinern? Wenn man sich angesichts der Widersprüchlichkeiten und den Herausforderungen des politischen Weltgeschehens, zurückzieht? Wenn hauptsächlich die fünf Menschen, die ich skizzierte, die Prägung der eigenen Wesenszüge übernehmen? Wie verändert sich dann die Ambiguitätstoleranz? Was macht das mit dem Umgang mit Herausforderungen, mit Widersprüchen, mit Anstrengungen, mit Mitmenschen und damit mit der Gesellschaft?
Ambiguitätstoleranz lässt sich trainieren
Die Evangelische Akademie Tutzing wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, als Reaktion der Kirche auf ihr Versagen in der NS-Zeit. Bildung und Diskussion anzubieten, Orientierung im Chaos zu suchen, mit Menschen zu streiten und zu diskutieren, die andere Meinungen vertreten als die eigene. In Tagungen und Workshops erlebt man Widersprüchliches, Konträres, Kontroverses. Und man lernt bestenfalls damit umzugehen, vielleicht mit Gelassenheit oder Interesse. Dieser Umgang mit Widersprüchen stärkt die Ambiguitätstoleranz. Und er stärkt die Abwehrkräfte gegen einfache Erklärungen. Denn: Die Welt ist und bleibt komplex. Es braucht Handwerkszeug wie die Ambiguitätstoleranz, um damit umzugehen. Es bleibt wichtig, diese Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, weiter zu trainieren und zu stärken. Ob in der Akademie, ob unter den fünf Menschen, mit denen man sich am meisten umgibt, oder in der Schlange beim Bäcker, wo man sich jetzt wieder mit Freude in die Augen schauen und mit Unbekannten ins Gespräch kommen kann.
Julia Wunderlich ist Studienleiterin für Jugendpolitik und Jugendbildung im Jungen Forum der Evangelischen Akademie Tutzing.
Bild: Julia Wunderlich (Foto: Haist/eat archiv)
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