Himmel & Erde

Von der Entzauberung

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!“ So endet, so muss letztlich ein jedes Märchen enden. Selbst oder gerade weil oftmals über den geliebtesten Menschen oder Dingen ein ‚böses Ende’ schwebt, laben wir uns an allem, wo ein ‚happy end’ winkt.

Im Falle des deutschen Sommermärchens von der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 schaut es derzeit aber eher danach aus, dass wir wieder einmal um eine Illusion ärmer sind. Von Bestechung ist die Rede, dubiosen Zahlungen, Absprachen, gekauften Wählerstimmen im arg knappen Abstimmungsergebnis, von Schmutzfinken im eigenen DFB, wo sich auch nicht alle Funktionäre – wie sonst die Guten im Märchen – ‚geschwisterlich gestimmt’ sind und um die Wahrheit scharen. Tja, genauer besehen wäre es auch märchenhaft, wenn zwischen der WM 2002 und der von 2010 (in Südafrika stehen eine Reihe Topstadien, die für unterklassige Ligen ein bissle zu groß sind und mitunter auch gerne beweidet werden – immerhin gehören im Märchen auch die Tiere als des Menschen verschwisterte Geschöpfe zum Schein der heilen Welt), ganz zu schweigen von den WM-Zuschlägen für Russland und Quatar (ein wenig zu heiß ist es dort, noch, um im Sommer zu kicken, und auch diese Mega-Arenen werden danach von den heimischen Fußball-Ligen eher unterbestimmt bespielt werden) kein Unterschied wäre.

Schon naheliegend in summa von der ‚Fifa Mafia’ zu sprechen, so ein in zig Sprachen übersetztes deutsches Buch, das im Focus schonungslos nur eins am kommerziellen Profifußball leistet: seine Entzauberung. Aber wie viel Entzauberung hält der Mensch aus? „Entzauberung“, das gilt mit Max Weber als d i e Signatur der Moderne: die Religion sei entzaubert, dass kein Gott sei; die Politik sei entzaubert, dass Macht die Oberen vergifte; die Wirtschaft gilt – auch schon vor VW-Diesel – auch nicht als Oase authentischer Charaktere usw. und so fort. Märchen sind etwas für Kinder, heißt es, als wäre man kindisch, sich im Wunsch nach Glaubwürdigem, Verlässlichem, Wahrhaften, gar nach einem Happyend zu ertappen. „Entzauberung“ also wohin man schaut.

Ist da nicht der Fußball eine der letzten Passionen der Illusion, der Illusio gewesen? Illusio bedeutet ‚Spieleinsatz’, von ludere, lateinisch spielen. Ohne diese intuitive Vorgabe, die Illusio, dass es sich lohnt zu spielen, bekommt man ja den Hintern gar nicht hoch! Einzig die Illusio beflügelt, euphorisiert, motiviert, denn sie ist der Traum vom gerechten Sieg in Competition, der nach dem lateinischen cumpetere (gemeinsam etwas bestreben) eben jene nur im Spiel obwaltende Dialektik von Konkurrenz durch Kooperation auf Augenhöhe kennt, also eine Logik der Anerkennung auf Augenhöhe mit einem Minimum multilateralen Fairplays lebt. Selbst wenn wir Modernen also klerikal, religiös, politisch, wirtschaftlich usw. als entzaubert definiert werden sollten – uns vermeintlich transzendental Obdachlosen sind die fußballernden Vorbilder eben ‚Augenblicksgötter’ (so schon Hermann Useners Mythologie im 19. Jahrhundert). Augenblicksgötter kommen und gehen, scheinen sinnlich lodernd auf und verlöschen – die Fritz Walter, Helmut Rahn, Maxl Morlock, oder der fränkische Brasilianer am Ball, Stefan Reisch, ja, klar, Pelé, Garrincha, Bobby Charlton, Gianni Rivera, Lew Jaschin, logo: Kaiser Franz, Netzer, Overath, Libuda, Gerd ‚Bomber’ Müller’, bis rauf zu Messi, Ronaldinho, Ronaldo, Mehmet Scholl, ‚Loddar’ Matthäus … und den größten Zampanos alla Zinedine ‚Zizou’ Zidane, Xavi Hernandez, Iniesta und lastbutnotleast: Maradona. Der Diego mag gestört (gewesen) sein, eine Cocainbombe oder Drogenleiche, aber er war nicht korrupt – sie feierten ihn, und tun es bis heute, in Neapel als Messias, der den linken Fußball (so sein Ziehvater und Trainer Cesar Luis Menotti) ernährte, dem Volk seine Träume erfüllte (hingegen der rechte Fußball dem Volk das Brot raube) – und so singt das Chaos Napoli bis heute: oh Mama Mama Mama, ho visto Maradona, ho visto Maradona …, sono innamorato … !

Also: wir brauchen Märchen, Verzauberung, wie früher, wo wir unseren Augenblicksgöttern nachgeeifert haben, von Jesus von Nazareth bis Che Guevara, von Ntschotschi bis Janis Joplin, von Thomas Münzer zu Gandhi und über Martin Luther King oder Cassius Clay bis Jimi Hendrix & Co: „Scuse me while/why I kiss the Sky“! Wir wollen den Himmel küssen im Spiel, als homo ludens, wollen uns die Grandiosität unserer Augenblicksgötter leihen, um für einen Nu ‚wundersam verwandelt’ zu werden, lat. commercium admirabile, wollen statt bloßer Worte echte Taten sehen, leben, aus rhetorischem Wissen performatives Können machen.

Ist der ein Kindskopf, der auch im hohen Alter noch spielt und sich Gitarrenriffs oder Balltricks auf den Leib schafft? Oben mag Leere herrschen, aber unten pochen wir auf Zauber.

Laß Dir, Du und Du, Deinen Tagtraum nicht stehlen, glaub’ ans Märchen, ans Spiel, das die Menschen verschwistert, gib ihn nicht her, für kein Geld der Welt! Ja, Ihr Kids, spielt uns was vor, zeigt uns, dass der Größenwahn im kleinen Funktionär keine anthropologische Konstante ist, sondern nur die verzweifelte Entstellung all jener, die nie mitspielen durften, weil sie das Bluesschema nicht in die Hände schafften und den Ball nicht drei Mal hochhalten konnten.

Spielt, Kinder, spielt – der Traum vom wahrhaftigen Spiel ist auch die letzte Illusio in der Bibel, im Buch der Apokalypse, der finalen Entschleierung, wenn die Masken fallen, der Schein, der trügt (was ja sein Wesen ist), abgeschafft wird vom Offenbarwerden des authentischen Seins, alle Skandale gerichtet sind und zuletzt ein märchenhaftes Happyend alles Widerliche von Lügen, Verbrechen bis sogar den Tod abschaffen wird: Dann werden alle Völker miteinander spielen und der liebe Gott wird in seiner Hütte (Moschee, Kirche, Synagoge, Tempel braucht es nimmer) zuschauen. Was für eine Illusio! Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute!

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