In einer Gastkolumne für die Evangelische Akademie Tutzing plädiert der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament für eine Revitalisierung des multilateralen Gedankens, des Willens zur Gemeinsamkeit. „Und die kann glaubhaft und wertegebunden nur von Europa ausgehen.“
Die Europawahl am 26. Mai könnte zur Schicksalswahl für unseren Kontinent werden. So ist derzeit in vielen Zeitungen und Analysen zu lesen. Und ich gebe dieser Interpretation grundsätzlich Recht. 40 Jahre nach der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament ist unsere Zeit geprägt von Unsicherheit und Instabilität. Europa ist gefordert wie lange nicht. Der politische Diskurs der vergangenen Jahre war bestimmt von Krisen: Finanz-, Euro- und Migrationskrise haben Europa durchgerüttelt, das politische System der EU auf die Probe gestellt und die Politik an ihre Grenzen geführt. Extreme Kräfte von rechts und links haben sie genutzt, um zu polarisieren. Diese Kräfte spalten Gesellschaften und treiben die europäische Gemeinschaft als Ganzes auseinander. Vereinfachungen, Fake News, Emotionalisierung und Herabwürdigungen anderer sind ihr Mittel der Kommunikation in der scheinbar immer komplexer werdenden Welt. Linke und rechte Populisten sowie Nationalisten fordern so Europa und seine Prinzipien fundamental heraus. Europa insgesamt ist ins Rutschen gekommen.
Europa wird von außen auf die Probe gestellt. Die internationale Sicherheitslage ist angespannt wie lange nicht. Das auf unsicheren Beinen stehende Iran-Abkommen, die Suspendierung des INF-Vertrags durch Russland und die USA, die weiterhin angespannte Situation in der Ostukraine, der Bürger- und Stellvertreterkrieg in Syrien – all dies spielt vor den Toren Europas und betrifft uns unmittelbar. Wir erleben einen Wandel in den internationalen Beziehungen weg vom Multilateralismus, der fundamentaler Natur ist. Der Wille zum Dialog und zur Verständigung auf einen gemeinsamen Weg geht verloren. Die Dynamik der Kooperation und der Wirkmächtigkeit von internationalen Institutionen wird schwächer.
Unilateralismus und der wiederaufstrebende Nationalismus können nicht das Zukunftsmodell des 21. Jahrhunderts sein. Auch wenn vielleicht kurzfristig einzelne davon Profit ziehen, mittel- und langfristig ist dies zum Schaden aller. Die sich rasant entwickelnden und verändernden Herausforderungen von heute und morgen, hier sei nur die Globalisierung, der Klimawandel, die demographische Entwicklung, die Digitalisierung oder weltweite Migrationsströme genannt, können ausschließlich durch eine bessere Zusammenarbeit bewältigt werden. Wir brauchen eine Revitalisierung des multilateralen Gedankens, des Willens zur Gemeinsamkeit. Und die kann glaubhaft und wertegebunden nur von Europa ausgehen.
Europa wird also gebraucht. Unsere Antwort als EVP, CDU und CSU ist deshalb ein starkes Europa! Europa muss sich auf internationalem Parkett behaupten. Es muss sein diplomatisches Schwergewicht, seine Fähigkeit des Dialogs, in den Vordergrund rücken. Wir müssen den Willen haben, mitzugestalten – auf zentralen Feldern der internationalen Politik: etwa bei Innovationen, der Bearbeitung von Krisen, in der Entwicklungszusammenarbeit oder als außenpolitischer Akteur und in Fragen der Verteidigung.
Europa muss eine Innovationsunion werden. mit gezielten Investitionen in Digitalisierung, etwa zur Nutzung von Big Data oder der Entwicklung eines „digitalen Airbus“-Projekts wie eine Digitalplattform für Künstliche Intelligenz. Gemeinsam hat Europa zum Beispiel die Chance, große Geißeln unserer Zeit wie den Krebs oder Alzheimer zu beherrschen oder zumindest einzudämmen. Dazu müssen wir unsere Forschungskompetenzen, Ressourcen und Daten bündeln, damit möglichst viele Menschen profitieren können. Mehr und den Menschen dienende Innovationen müssen vom europäischen Kontinent ausgehen – wir wollen Europa zum Chancenmarkt für Forschung und Schlüsseltechnologien entwickeln. Europa kann durch seine auf Werten basierende Innovationskraft zu einem Vorbild werden und die Welt zu einem besseren Platz machen.
Europa muss eine Sicherheitsgemeinschaft sein. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Offenkundig braucht es einen selbstständigeren europäischen Pfeiler in der NATO und vermehrt eigene Fähigkeiten der EU. Daher wollen wir die Idee gemeinsamer Europäischer Streitkräfte bis 2030 anstoßen und als Einstieg gemeinsame Interventionseinheiten und eine Cyber-Einheit aufbauen, um gegen digitale Angriffe und gezielte Desinformation und Manipulation vorgehen zu können. Mit der Bündelung von Ressourcen, gemeinsamer Beschaffung und gezielten Zukunftsinvestitionen stärken wir effizient die Verteidigungsfähigkeit der Union. So wollen wir – Hand in Hand mit der NATO – für Stabilität und Sicherheit einstehen.
Europa ist eine Wertegemeinschaft und muss es bleiben. Wir stehen zu unseren Werten, Traditionen und Brauchtum, das in den vielfältigen Regionen Europas zuhause ist. Unser „European Way of Life“ ist christlich-abendländisch geprägt, von Humanismus und Aufklärung. Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Religionsfreiheit, Gleichheit von Frau und Mann, soziale Marktwirtschaft, unsere gelebte Alltagskultur: All dies gibt es so nur in Europa. Wir müssen uns in Europa anhand dieser Prinzipien auch immer wieder selbst hinterfragen. Wenn wir diese Werte nicht nach innen garantieren, werden sie nach außen Kraft verlieren.
Europa kann eine Weltmacht der Werte sein. Das gilt etwa in Fragen der internationalen Handelspolitik. Wir wollen einen freien und fairen Welthandel und der Globalisierung Regeln geben. Wer, wenn nicht Europa, muss hier einstehen für Regeln und Normen, um gegen Kinderarbeit und Ausbeutung vorzugehen oder für Sozial- und Umweltstandards einzutreten? Wir wollen das EU-Kanada-Abkommen CETA in volle Blühte und neue Abkommen mit Singapur, Vietnam und den Mercosur-Staaten zum Abschluss bringen. Außerdem braucht es einen neuen Anlauf für einen umfassenden Handelsvertrag mit den USA. Das ist die viel bessere Alternative zum aufkeimenden Handelskonflikt.
Europa muss stabil bleiben. Dazu zählt insbesondere die finanzpolitische Solidität. Wir haben erlebt, wie die Euro- und Schuldenkrise Gesellschaften und die EU als Ganzes spalten können. Daher ist es für den Zusammenhalt der Gemeinschaft wichtig, dass wir finanzpolitische Stabilität fördern. Der Konsolidierungskurs der vergangenen Jahre war überwiegend erfolgreich. Er muss fortgesetzt werden. Gleichzeit müssen wir Europäer mehr investieren, um zukunftsfähig zu bleiben. Keine Region in Europa darf abgehängt werden. Europa soll dort stark sein, wo es gebraucht wird, etwa bei der dauerhaften Garantie eines soliden Euro. Daher müssen wir die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds – nach dem Prinzip von Solidarität gegen Solidität – vorantreiben, damit unsere Finanzstabilität nicht vom Wohlwollen anderer Wirtschaftsmächte abhängig ist.
Für all diese Fragen ist die Europawahl von größter Bedeutung. Wir müssen die Spannungen der letzten Jahre hinter uns lassen – ob Nord, Süd, Ost oder West – nur gemeinsam sind wir stark. Europa braucht neuen Zusammenhalt. Ich will Gräben überwinden, die die Parteien der Extreme ausgehoben haben. Ich will Gesellschaften und Staaten zusammenhalten, statt zu spalten. Dazu mache ich gemeinsam mit der EVP in Europa und CDU und CSU in Deutschland ein Angebot für bürgerliche Politik.
Heute ist die EU für viele Menschen weit weg, intransparent und ein Projekt der Technokraten und Eliten. Europa muss demokratisiert werden, die neue Kommission braucht eine Legitimierung direkt über die Europawahl. Die Wähler entscheiden über die künftige Richtung Europas. Sie bestimmen, welche Partei im nächsten Europäischen Parlament die bestimmende Kraft sein wird. Sie geben vor, welche Person an der Spitze der Kommission stehen soll und welches Programm sie verwirklicht haben wollen. Wenn wir diese fundamentalen Entscheidungen nicht aus den Hinterzimmern in die Mitte der demokratischen Entscheidungsprozesse holen, wird die Europäische Union Schaden nehmen. Ich setze mich für ein Europa ein, das nah bei den Bürgern ist. Für ein Europa, das seine Werte und seine Identität bewahrt. Für ein Europa, das Innovationen und Forschung fördert. Für ein Europa, das seine Außengrenzen schützt und in der inneren Sicherheit kooperiert. Für ein Europa, das sich um die großen Fragen kümmert. Kurzum: Ich stehe für ein bürgerliches Europa ein!
Der Autor, Manfred Weber (46), ist europaweiter Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei und von CDU und CSU zur Europawahl. Seit 2014 führt er die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament als ihr Vorsitzender und ist stellvertretender CSU-Parteivorsitzender.
Hinweis: Europa ist auch vom 15. bis 17. März 2019 das Thema der Frühjahrstagung des Politischen Clubs. Wolfgang Thierse, Leiter des Politischen Clubs formuliert im Titel die Frage: „Was soll aus Europa werden? Europas Gegenwart – Europas Zukunft“. Informationen zum Programm finden Sie hier.
Kommentare