Kirche als Obdach, zum Beispiel 1983 in Berlin-Rummelsburg für die “negativ-dekadente Jugend”, sprich Punks in der DDR. Dass jeder Mensch geliebt, gewollt und angenommen ist, das ist das christliche Versprechen. Um es zu halten, braucht es viel Courage – und Liebe zum Unterschied. Wie kann Kirche Menschen Mut geben, sich zu trauen, zu sein, wie sie sind oder Dinge auszusprechen, die tabuisiert werden? Mit diesen Fragen beschäftige sich Studienleiterin und Pressereferentin Dorothea Grass in ihrem Essay für den Jahresbericht 2022 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Hier können Sie den Text in der Langversion nachlesen.
1983 spielte die Düsseldorfer Punk-Band Die Toten Hosen ein geheimes Konzert in Ost-Berlin. Der Ort: Die Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg. Die Kirche war Unterschlupf für die Jugendlichen mit den abstehenden Haaren, den Sicherheitsnadeln im Ohr und den Buttons an den Kutten. Im Jargon der Staatssicherheit gehörten die jungen Menschen in der DDR, die Teil der Punk-Szene waren, zur “negativ-dekadenten Jugend”. Regulär auf Bühnen aufzutreten war den Punks nicht erlaubt, denn wer sich Künstlerin oder Künstler nennen und auftreten durfte – darüber entschied der Staat in offiziellen Einstufungsverfahren. Der Staat entschied auch darüber, wer mit welchen Klamotten “auf dem Alex”, dem Berliner Alexanderplatz, abhängen durfte. Die jungen Leute mit den Buttons an den Jacken jedenfalls nicht – sie wurden regelmäßig von der Stasi verhaftet.
Warum wurde die Kirche der Ort, der der Punkszene Obdach gab? Warum spielten sie dort ihre Musik, im Rahmen von Gottesdiensten, mit denen sie nicht unbedingt etwas am Hut hatten, wo sie “sogar beten” sollten? Stefan Müller, heute Sozialdiakon in Ost-Berlin und damals Praktikant in der Erlöserkirche erzählt in der ARD-Dokumentation “Auswärtsspiel”, warum sich die Kirche damals dazu entschloss, den Punks einen Ort zu geben. Man habe sich gesagt: “Leute, wir können die nicht im Regen stehen lassen.”
Ein so simpler wie tiefsolidarischer Grund. Couragiert war dieser Schritt, mutig. Die DDR-Kirchen wussten genau, dass sie vom Staat beobachtet wurden, dass jede Menge inoffizielle Mitarbeiter der Stasi regelmäßig zu den sogenannten Beat-Messen kamen, um zu hören, welche Parolen hier fielen, wer sich wie äußerte. Und natürlich blieb das für die betroffenen Personen nicht ohne Folgen.
“Es war ‘ne heiße Nummer. Die hätten dafür in den Knast wandern können.”
Hinzu kam: Die Kirchen waren in der DDR selbst Außenseiter. Als diejenigen, die nach kommunistischer Logik “Opium fürs Volk” verbreiteten, waren sie geduldet und wurden beobachtet – für Christinnen und Christen war es nicht selbstverständlich, über ihre beruflichen Wege selbst zu entscheiden, nicht selten wurden sie auch bedroht. Es ist die Frage, ob es leichter oder schwerer ist, sich couragiert zu verhalten, wenn man ohnehin nicht zu den Privilegierten gehört. Fakt ist aber: Die christlichen Kirchen in der DDR boten trotz ihres Standes einen Raum für freie Meinungsäußerungen, für mutige Gedanken und Lieder, für die Begegnungen zwischen Menschen über alle sozialen Schichten und Bildungswege hinweg. Möglich, dass ihr Außenseitertum zugleich die Anziehungskraft für andere Außenseiterinnen und Außenseiter stärkte. In der erwähnten Fernsehdokumentation über das erste illegale Konzert der Toten Hosen in der DDR erzählt Silke “Cat” Klug, die damals als Teil der Ostpunk-Szene dabei war: “Es war ‘ne heiße Nummer. Die hätten dafür in den Knast wandern können.”
Es gibt eine weitere Szene in der Dokumentation, die erzählt, wie jemand überhaupt dazu kommt, sich zu äußern und seinem inneren Befinden Ausdruck zu geben. Michael “Pankow” Boehlke, 1983 Sänger der Ostberliner Band Planlos, die beim geheimen Konzert der Toten Hosen so etwas wie die Vorgruppe war, beschreibt im Film, wie er zum Punk wurde. Er erinnert sich an einen Moment, in dem er ausgerechnet in einer aus dem Westen ergatterten “Bravo” – nicht gerade Medium der Punkszene – ein Bild der britischen Sex Pistols sieht. Er erzählt: “Alles, was in mir wohnte, was in mir war, konnte ich mit einem Mal ausdrücken – ohne dass ich eigentlich wusste, was es bedeutet, ich hatte keine Ahnung von Punk”. Mit einem Mal habe er gesehen: “Ey, Du kannst und Du darfst anders sein!” Das Beispiel hat auf den ersten Blick nichts mit Kirche zu tun, aber es beschreibt den Moment, in dem sich ein Mensch in anderen erkannt fühlt – und eine Ausdrucksform findet.
Couragiertes Handeln findet auch heute in kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden statt, auch wenn man in den meisten Fällen dafür keine Gefängnisstrafe riskiert. Etwa da, wo Menschen für Schwächere und Unterprivilegierte eintreten, wo sie Geflüchteten, Straffälligen oder Obdachlosen helfen, obwohl sie sie nicht kennen, wo sie Kirchenasyl bieten oder Themen ansprechen, die unangenehm sind und kontrovers gesehen werden – wo Menschen große und kleinere Wagnisse eingehen.
Glaube versus Institution – das eine kann nicht ohne das andere sein
Jedoch stellt sich die Frage: Inwieweit lässt Kirche selbst couragiertes Handeln zu, nicht nur angesichts gesellschaftlicher Problematiken, sondern auch innerhalb von Kirche? Der persönliche Glaube ist das eine – die Institution und damit verbundenen Machtdynamiken das andere. Wie schwer es ist, Steine ins Rollen zu bringen, erste(r) zu sein, zeigt auch die Geschichte der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im kirchlichen Umfeld.
Wie kann Kirche Courage weitergeben? Wie kann sie Menschen Mut geben, sich zu trauen, zu sein, wie sie sind, zu handeln, obwohl sie sich damit in Gefahr begeben oder Dinge auszusprechen, die tabuisiert werden? Inwieweit kann Kirche als Institution und auch Machtapparat das leben, was sie lehrt: nämlich, dass jeder Mensch geliebt, gewollt und angenommen ist, dass niemand alleine ist? Glaube versus Institution – das eine kann nicht ohne das andere sein. Es braucht den Glauben, um der Institution den Sinn zu geben und es braucht die Institution, um den Glauben am Leben zu erhalten und weiterzugeben.
Viele Menschen stören sich vor allem an Kirche als Institution. In einer höchst unrepräsentativen kleinen Umfrage, die die Autorin selbst via Social Media angestoßen hat, schrieb eine 49-Jährige Nicht-Kirchengängerin: “Kirche als System finde ich langweilig. Für mich sind das einfach die mit den gehäkelten Strümpfen und dem Fisch auf dem Auto.” Mut fände sie dort, wo sie Energie findet, sich überhaupt Fragen zu stellen. Für sie ist das die Natur. Dort komme sie zu sich, dort schöpfe sie Kraft.
Ein 41-jähriger Familienvater schrieb: “Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen macht dort Mut, wo alle Gemeinschaften Mut machen. Ein gemeinsamer Nenner eint so viele unterschiedliche Leute. Das macht den Rücken stark überall dort, wo man in Unterzahl erscheint.” Kirche als Institution schaffe es für ihn dann, Mut zu machen, wenn “klare Kante gegen die Widrigkeiten der Welt” gezogen werde, in dem Schiffe zur Seenotrettung gekauft werden, Hilfsgüter in Krisengebiete gehen. Glaube könne für ihn Mut machen, in dem er demütig mache und den Gemeinschaftssinn wachhält: “Gemeinsam sind Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Welt nur halb so schlimm.” Auf die Frage, was ihn zum couragierten Handeln bewege, schrieb er: “Die Notwendigkeit dazu”. Es gebe eben Dinge, die Handeln nötig machten, nach dem Motto: “Wenn das Gewissen sagt: ‘Mach was!’ dann mach was.”
In den Streit mit der Welt begeben, die zuweilen schmutzig und ungerecht ist
Diesen inneren Drang zu couragiertem Handeln beschrieb auch eine Frau, Mitte vierzig und nichtgläubig: “Mich bewegt zum couragierten Handeln mein Gerechtigkeitssinn. Wenn ich etwas sehe, was Unrecht oder falsch ist, dann brennt bei mir etwas durch und ich handle. Egal ob es eine dumme oder nicht strategisch gute Idee ist – das interessiert mich nicht. Recht und Gerechtigkeit muss siegen und wenn ich mir dadurch einen Nachteil einhandle.”
Mut beweisen heißt, sich einzumischen, sich in die Auseinandersetzung begeben, in den Streit mit der Welt, die zuweilen schmutzig und ungerecht ist. Wer sich in diese Welt begibt, verabschiedet sich für kurz oder lang von der Behaglichkeit – und muss das aushalten können.
Was folgt auf den Mut? Zunächst geht couragiertes Handeln immer auch einen Pakt mit dem Ungewissen ein. Wer etwas tut, ohne etwaige Folgen einschätzen zu können, geht ins Risiko. Die französische Philosophin Anne Dufourmantelle beschrieb im Buch “Lob des Risikos” eine Kraft des Unvorhersehbaren, die nur gewinnen lässt: Handlungsräume, Kreativität oder Selbstbestimmung. Sie, die selbst 2017 ihr Leben verlor, als sie zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete, schreibt in dem Buch auch über das “wunderbare Risiko” des Glaubens. Sie erinnert an die Philosophen Blaise Pascal und Søren Kierkegaard, die darüber nicht nur als Christen nachgedacht hätten, sondern die eine “unhaltbare philosophische Position des Paradoxes” eingenommen hätten. “Ein Hindernis, das man nur mit einem Sprung überwinden kann, die Durchquerung eines unbegrenzten, theoretischen und geistigen Raumes. Eine rationale Kontinuität ist unmöglich. Denn glauben kann man nur etwas, was prinzipiell auch nicht geglaubt werden kann. Nur in diesem, höchst paradoxen Sinne lässt sich das Risiko eingehen: in Form eines Sprungs, der sich der Vernunft entzieht.”
Das Bestärken von Menschen, die sich für etwas einsetzen, das ein Überwinden von Bequemlichkeit erfordert, ein Betreten von unbetretenem Terrain – das ist etwas, das sowohl Gläubige untereinander als auch Kirche nach innen und außen bewegen kann.
Jeder Unterschied, jedes Risiko: eine Bereicherung
Die Menschen der Erlöserkirche in Berlin gab in dem verbotenen Punk-Konzert 1983 anderen Menschen die Chance, sich erkannt zu fühlen, sie zu sehen. Sie ließen Ungewohntes zu, gingen Risiken ein, ließen sie nicht alleine. Heute geht es im öffentlichen Diskurs immer mehr um “Equality” und “Diversity”. Firmen und Organisationen erarbeiten Leitfäden, um diverser zu werden – ganz einfach, weil verschiedene Lebensweisen und Lebensgeschichten, Wurzeln und Hintergründe dazu da sind, um erkannt, aufgenommen und ernstgenommen zu werden. Jeder Unterschied, jedes Risiko ist eine Bereicherung. Auch Streit ist wichtiger denn je, wenn er im gegenseitigen Respekt geführt wird. Auch er bedarf Courage.
Courage geht als Wort auf das lateinische Substantiv “cor” zurück, Herz. Wir sagen auch, jemand handelt beherzt, lässt das heraus, was ihm auf dem Herzen liegt. Auf Tagungen der Evangelischen Akademie Tutzing sind es oft die Momente, an denen jemand sich ein Herz fasst, und seinem Unmut Luft macht. “Ich kann das alles nicht mehr hören!” war ein Satz aus dem Publikum, der in diesem Jahr während einer Podiumsdiskussion, Emotionen offenlegte und eine weitere Diskussion anstieß, die in gleichem Maße aufwühlte als auch essenziell war, um das Thema zu verstehen. (Der Titel der Tagung war: “Sehen und gesehen werden. Teilhabe im Film”).
Streit im Jahr 2022 ist ein so wertvoller wie heikler Vorgang. Längst sind wir durch entfesselte Social Media gewohnt, Kränkungen und Diffamierungen ausgesetzt zu sein, oft vermissen wir das Gefühl, dass hier wirklich jemand zuhören will. Eine Dynamik, die sich auch in der Kohlenstoffwelt beobachten lässt. Der Psychologe und Kommunikationsexperte Friedemann Schulz von Thun berichtet im Buch “Die Kunst des Miteinander-Redens” davon, dass er sich mittlerweile in sein “inneres Team” jemanden geholt habe, den er den “Differenzophil” nennt. Bei Dissens und Differenzen reagiere dieser, indem er dem Gegenüber “halbwegs vergnügt” begegnet und sagen lässt: “Ach, so siehst du das? Interessant! Ich bin nämlich völlig anderer Auffassung!”. Er schreibt weiter: “Ich bin mir inzwischen sicher, dass es eine wichtige Fähigkeit ist, Angriffe auszuhalten und auch einzustecken und nicht bei jeder harten Formulierung, dich mich attackiert und konfrontiert, sogleich einzuschnappen oder in totale Gekränktheit zu verfallen.” Die Streitbarkeit gehöre “unbedingt zur kommunikativen Grundausrüstung”.
“Mut predigen ist schwierig”
Der “Differenzophil” könnte auch im “Team Kirche” gute Dienste leisten um den Mut innerhalb und außerhalb der Institution zu stärken. Menschen auffangen, ihnen Bestärkung bieten, all das kann Kirche leisten, wenn sie sich auf Risiken einlässt, eigene Ansprüche dabei vergisst und Befindlichkeiten überwindet.
“Mut predigen ist schwierig”, sagte der Katholik Wolfgang Thierse im “Seefunken”-Podcast im Juni 2022. Ängste müsse man ernst nehmen. Jedoch: “Mut kann man nur ansteckend vertreten, wenn man zeigt, dass man selber mutig ist.” Wie sich das anfühlt, beschrieb Tote-Hosen-Sänger Campino, als er sich an das geheime Punkkonzert in Ostberlin zurückerinnert: “Das Spüren von Angst, Abenteuerlust und das Spüren von so einer revolutionären Kraft.”
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Zur Autorin:
Dorothea Grass ist Studienleiterin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Evangelischen Akademie Tutzing. Sie wuchs in Thüringen auf und verließ als Zwölfjährige mit ihrer Familie durch einen Ausreiseantrag die DDR.
Quellenangaben:
- “Auswärtsspiel: Die Toten Hosen in Ost-Berlin”, Dokumentarfilm von Martin Groß, abrufbar als Serie (3×30 Minuten) in der ARD Mediathek bis 14.10.2022.
- “Lob des Risikos” Anne Dufourmantelle, Aufbau-Verlag
- “Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik.”, Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun, Carl Hanser Verlag
- Seefunken-Podcast der Evangelischen Akademie Tutzing, 21. Juli 2022, Über Demokratie, Freiheit, Politik und Glaube mit Wolfgang Thierse
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