Wer seinem Schreibtischjob nicht im Unternehmen nachgeht, erledigt ihn von zu Hause aus. Dass das funktioniert, haben wir in der Pandemie verstanden. Doch es gibt auch weitere Alternativen. Eine davon: Coworking-Gemeinschaften. Warum funktioniert diese Form im ländlichen Raum oder in kleineren Kommunen besonders gut?
Von Hans-Peter Sander
“Wie wir arbeiten, sagt viel darüber aus, was uns im Leben wichtig ist”, sagt Tobias Kremkau, ein führender Kopf der deutschen Coworking Gemeinschaft. Mein Freund – und Kollege in der CoWorkLand Genossenschaft – fügt hinzu: “Coworking ermöglicht es den Menschen, Arbeit selbstbestimmt zu gestalten, nach den eigenen Werten, Vorstellungen und Bedürfnissen, die viele von uns erst entdecken müssen.”
War diese Entdeckungsreise für die meisten Menschen, die in ihrem Berufsalltag mehr oder weniger gefangen sind, lange Zeit nie wirklich ein Thema, hat die Corona-Pandemie auch das schlagartig verändert. Von heute auf morgen wechselten Millionen Erwerbstätige ins Homeoffice – und viele möchten daran festhalten, wie zahlreiche Studien es zeigen.
Mehr Flexibilität, Selbstbestimmung und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
Laut Statistischem Bundesamt sind rund 45 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Natürlich sind längst nicht alle Jobs zum mobilen Arbeiten geeignet; aber etwas mehr als ein Viertel aller Erwerbstätigen, etwa zwölf Millionen, geht einer Tätigkeit nach, die vollständig für Homeoffice geeignet ist, 35 Prozent der Jobs sind zumindest teilweise dafür geeignet – das beträfe also weitere rund 16 Millionen Menschen, während 36 Prozent aller Tätigkeiten gar nichts für das Homeoffice sind. Das hat der Digitalverband Bitkom ermittelt und für alle Erwerbstätigen herausgefunden: Inzwischen ist der Wunsch nach mehr Flexibilität, Selbstbestimmung und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben geweckt. Politik und Unternehmen sind gefordert, hierfür passende Rahmen zu setzen, lautet eine Schlussfolgerung daraus.
Zieht man in Betracht, dass wir rund ein Drittel unserer kompletten Lebenszeit an einem Arbeitsplatz verbringen, wird der Stellenwert dieser Aufgabe deutlich.
Wie Bitkom aktuell auch festgestellt hat, versammelt sich beim Thema flexiblere Arbeitsformen “die übergroße Mehrheit der Erwerbstätigen (…) hinter Werten und Einstellungen, die mit ‘New Work’ verbunden werden: Die Arbeitszeit frei einteilen (95 Prozent), individuelle Leistungs- und Lernziele selbst bestimmen (95 Prozent) und allgemein einer sinnstiftenden Tätigkeit (91 Prozent) nachgehen zu können”. Auch die Arbeitgebenden werden gefordert: Sie sollen beispielsweise gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, die Gleichstellung und Diversität fördern.
Trotz der Defizite: Für Berufstätige überwiegen die Vorteile mobilen Arbeitens
Ich habe die Freude, mein Herzensthema, “ländliches, kleinstädtisches Coworking”, zum Beruf gemacht zu haben. Coworking hat vor knapp zehn Jahren mein langjähriges Dasein als solo-selbständiger Kommunikationsberater spürbar verbessert: Anstatt am heimischen Schreibtisch meiner Wohnung weitere 20 Jahre vor mich hin zu werkeln, war ich wieder in einer Gemeinschaft, mit Menschen um mich herum, tätig geworden.
Im Ammersee Denkerhaus – Coworking Space habe ich dank zahlreicher Weggefährt*innen vielfältige Erfahrungen mit wohnortnahen Arbeitsformen gesammelt. Inzwischen sprießen im ganzen Land immer mehr Coworking-Initiativen, wo Erfahrungswissen gefragt ist und ich mich beruflich einbringen darf. Landauf landab wird die neue Normalität der Arbeitswelt – hybride Arbeitsmodelle, also das Sowohl-als-auch klassischer Präsenzarbeit und Remote Work – vorbereitet. Denn für Berufstätige überwiegen mehrheitlich die Vorteile mobilen Arbeitens: weniger Stress, da der Arbeitsweg entfällt, damit verbundener Zeitgewinn, bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, mehr zeitliche Flexibilität, gesundheitsbewussterer Lebensstil (zum Beispiel für mehr Möglichkeiten, Sport und bewusste Ernährung in den Tagesablauf zu integrieren) und vieles mehr.
Mit mobiler Arbeit sind auch Defizite deutlich geworden, wie fehlender persönlicher Austausch mit anderen Mitarbeitenden, Schwierigkeiten, Privatleben vom Job abzugrenzen beziehungsweise schlechtere Arbeitsbedingungen als im Firmenbüro. Gerade diese vor allem für das Homeoffice erkannten Nachteile können – davon bin ich fest überzeugt – wohnortnahe Coworking Spaces sehr gut ausgleichen.
Auch Kommunen profitieren von Coworking-Initiativen
Die Vorteile für die Berufstätigen sind die eine Seite der Medaille, das große Nutzenpotenzial wohnortnahen Coworkings für Kommunen die andere: zufriedene erwerbstätige Einwohner*innen, die sich auch dank mehr verfügbarer Zeit gesellschaftlich engagieren, wachgeküsste Schlaforte, weil die Menschen dableiben, am Ort gebundene Kaufkraft und mehr. In diesem Sinne ist “Coworking auf dem Lande” ein echter Beitrag zur Daseinsvorsorge, der entsprechende Förderung verdient.
Auf der Tagung, “An der Grenze – Neue betriebliche Arrangements an der Schnittstelle von Arbeit und Leben” am 19./20. Mai in der Evangelischen Akademie Tutzing möchte ich meine Gedanken zu einer gelingenden Neuorganisation von Arbeit und Leben mit den Gästen aus der betrieblichen Praxis sowie Interessierten aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft teilen.
Dass “Coworking” in der renommierten Evangelischen Akademie Tutzing am richtigen Ort behandelt wird, kam mir dieser Tage bei der Lektüre des neuen Buches “Coworking: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen” in den Sinn. Dort las ich diesen höchst bemerkenswerten Satz: “Eigentlich hätten Christ*innen das Coworking erfinden müssen”, schreibt die Theologin Maria Hartmann und fasst ihre Erlebnisse mit einem Coworking Space in ihrer Stadt zusammen. Sie habe dort eine Welt entdeckt, in der man dem, was man “Gott” nennt, ziemlich hautnah gekommen sei: Einem Gott, der Kreativität atmen lässt, der Teil einer Gemeinschaft sein will, und “eine Geistkraft, die Menschen miteinander verbindet, die sonst wenig miteinander zu tun haben”. Ein Gott, “der in seinem Wesen selbst ganz viel von Zusammensein und Zusammenwirken erlebbar macht – ein erster Coworker”.
Über den Autor:
Hans-Peter Sander ist Journalist und Kommunikationsberater sowie Landeskoordinator Bayern der CoWorkLand e.G. und Vorstand der Ammersee Denkerhaus e.G.
Hinweis:
Der Autor dieses Beitrags ist vom 19.-20. Mai 2022 zu Gast an der Evangelischen Akademie Tutzing und spricht auf der Tagung „An der Grenze – Neue betriebliche Arrangements an der Schnittstelle von Arbeit und Leben“ über das Thema „Co-Working – Arbeit in Gemeinschaft als Teil der Daseinsvorsorge“. Alle Informationen zum Ablauf der Tagung sowie den Anmeldemodalitäten, finden Sie hier.
Dieser Beitrag ist zugleich Gastkolumne im Mai-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Mehr dazu hier.
Bild: Hans-Peter Sander (Foto: Ammersee Denkerhaus)
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