Ein Artikel von Wolfgang Gründinger, Jg. 1984, Autor („Wir Zukunftssucher“, „Meine kleine Volkspartei“) und Sprecher der Stiftung Generationengerechtigkeit.
15 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren haben am 7. Juli 2014 eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht, unterstützt von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, dem „bekanntesten außerparlamentarischen Thinktank in Sachen Generationengerechtigkeit“ (Wirtschaftswoche) sowie der Kinder-Klimaschutzinitiative Plant-for-the-Planet. Rechtlich begleitet werden sie unentgeltlich von Prof. Michael Quaas, einem der „besten Anwälte Deutschlands“ (Handelsblatt-Ranking 2014). Sie wollen das Mindestwahlalter abschaffen und damit Demokratie und Generationengerechtigkeit stärken.
Ihre Forderung: Es gibt weiter ein reguläres Wahlalter von z.B. 16 Jahren, aber jeder junge Mensch, der sein Wahlrecht bereits früher ausüben möchte, sollte dies auch tun dürfen – ein Eintrag ins Wählerverzeichnis genügt. Es geht also nicht darum, Säuglinge oder Kleinkinder zum Urnengang zu verpflichten, wo sie dann mit Buntstiften ihre Bilder auf den Wahlzettel malen. Sondern: Jeder Mensch sollte wählen dürfen – egal, ob mit 10 oder 110 Jahren. Ebenso wenig, wie eine Altersgrenze nach oben demokratisch legitim ist, kann eine Altersgrenze nach unten legitim sein.
In ihrer Wahlprüfbeschwerde fordern die Jugendlichen, die Bundestagswahl 2013 für ungültig zu erklären. Sie alle waren zum Wahlamt gegangen, hatten ihr Wahlrecht eingefordert und wurden schulterzuckend abgewiesen – zu jung, um ihre Meinung in die Waagschale werfen zu dürfen. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags hat ihre Beschwerde jedoch abgewiesen. Jetzt muss Karlsruhe entscheiden, ob der Einspruch zulässig ist.
Bisher hatten sich die Richter nie ausdrücklich mit dem Mindestwahlalter auseinandergesetzt. Nur „orbiter dictum“ – d.h. in beiläufigen Randbemerkungen zu anderen Entscheidungen – hat das Gericht das Mindestwahlalter für „seit jeher“ und „aus zwingenden Gründen“ für gerechtfertigt erklärt, aber niemals dargelegt, worin diese zwingenden Gründe denn bestehen oder warum man mit dem bloßen Verweis auf die Vergangenheit einen derlei undemokratischen Zustand rechtfertigen kann. Schließlich steht im Artikel 20 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt.“ Kinder und Jugendliche sind derzeit aber von Wahlen ausgeschlossen – obwohl sie unbestritten zum Volk gehören, und obwohl sie am längsten und härtesten von den Entscheidungen betroffen sind, die heutige Politiker fällen. Sie sind nur Objekte der Politik, aber keine Subjekte.
Kinder haben nicht die nötige Reife zum Wählen, ist ein häufiger Einwand. Es wäre natürlich zu begrüßen, wenn sich jeder Bürger vor der Wahl eingehend mit Politik beschäftigen würde, um dieses wichtige Recht verantwortlich auszuüben. Eine „Wahlreife“ ist allerdings keine Voraussetzung für das Wahlrecht. Auch bei Älteren über 18 Jahren wird weder gefordert noch geprüft, ob sie eine gewisse Bildung oder Reife erlangt haben oder ob sie imstande sind, eine sozusagen „vernünftige“ Wahlentscheidung zu fällen.
Das ist auch der Grund, warum ein Höchstwahlalter ebenso wenig zu rechtfertigen ist, obwohl sich dafür auch gute Gründe finden ließen. „Dieses Recht einer ganzen Generation alter Menschen durch die Einführung einer Altersgrenze zu entziehen, ist sowohl aus demokratietheoretischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht unhaltbar“, heißt es dazu in einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. Denn: „Die möglicherweise abnehmenden Fähigkeiten älterer Menschen, aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme gestalterisch teilnehmen zu können, kann kein Kriterium für den generellen Entzug des Wahlrechts ab einer bestimmten Altersgrenze darstellen, da das Vorhandensein dieser Möglichkeiten umgekehrt auch kein Kriterium für die Gewährung des Wahlrechts ist.“ Wenn dies für alte Menschen gilt, kann niemand erklären, warum das für junge Menschen nicht genauso gelten sollte.
Überhaupt ist völlig nebulös, was unter der so oft geforderten „Wahlreife“ eigentlich konkret zu verstehen ist, wie das Gutachten des Bundestages feststellt. Kriterien, an denen man „Wahlreife“ messen könnte, sind an keiner Stelle definiert – weder im Gesetz noch der Rechtsliteratur noch sonstwo. Und selbst wenn: Das reine Lebensalter wäre dafür kein geeigneter Maßstab, denn alte Menschen können auch überkommene Vorstellungen von Geschichte und Politik weiterschleppen und mit modernen Entwicklungen überfordert sein.
Auch Demenzkranke verfügen in der Regel über das Wahlrecht (§12 Bundeswahlgesetz). Von derzeit etwa 62 Millionen Wahlberechtigten leiden derzeit rund eine Million Bürger an Demenz. Für das Jahr 2050 wird eine Zahl von vier Millionen Demenzpatienten mit einem Anteil von 5% an der Wahlbevölkerung prognostiziert. Nur wenn eine dauerhafte Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten gerichtlich anerkannt ist, erlischt deren Wahlrecht. Da die Betreuung selten alle Angelegenheiten umfasst, behalten Menschen in der Regel auch dann noch das Wahlrecht, selbst wenn sie geistig nicht mehr präsent sind. Auch wer aus anderen Gründen nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte ist und beispielsweise stark betrunken im Vollrausch in die Wahlkabine stolpert, darf nicht von der Wahl abgehalten werden. Und: Sogar Schwerverbrecher wie Mörder und Vergewaltiger haben das Wahlrecht. Einzig und allein bei Jugendlichen werden derart hohe intellektuelle und moralische Maßstäbe angelegt, wie man sie sonst von niemandem verlangt.
„Kinder wissen nicht genug über Politik, um eine verantwortliche Wahlentscheidung zu treffen“, ist ein zweiter Einwand. Es mag stimmen, dass Kinder im Durchschnitt weniger über Politik wissen als Ältere. Aber auch politisches Wissen ist keine Voraussetzung für das Wahlrecht – sonst müsste man einen Wahleignungstest einführen, den wohl die meisten volljährigen Bürger ebenso wenig bestehen würden. So konnte beispielsweise in Umfragen knapp die Hälfte der (erwachsenen!) Deutschen weder die Bedeutung der Erststimme noch der Zweitstimme richtig einschätzen. Soll man also die Hälfte der Bevölkerung von Wahlen ausschließen, weil sie das Wahlsystem nicht versteht? Von Jugendlichen aber erwarten wir, dass sie das Wahlsystem kennen, die Parteiprogramme gelesen haben und die Weltfinanzkrise erklären können, bevor man ihnen das Wahlrecht gewähren dürfe. Von Älteren wird dies nie verlangt.
Wer Politikwissen als Voraussetzung für das Wahlrecht betrachtet, müsste erst einen Wissenstest einführen, den viele Ältere ebenso wenig meistern würden – und der zutiefst undemokratisch wäre. Denn der Grundsatz unserer Demokratie lautet: Ein Mensch, eine Stimme.
Dabei sind die Jugendlichen die besten Experten ihrer eigenen Lebenswelt und wissen beispielsweise über Schulpolitik oder Netzpolitik fraglos besser Bescheid als viele Ältere, die in einer völlig anderen Welt zuhause sind.
Wie leicht jemand beeinflussbar ist, wird auch bei erwachsenen oder hochbetagten – nicht einmal dementen – Bürgern zum Maßstab gemacht, ob man ihnen das Wahlrecht verleihen dürfe. Eine mögliche leichtere Beeinflussbarkeit ist daher kein Grund, einer gesamten Altersgruppe das Wahlrecht pauschal zu verweigern, da man sonst den gleichen Maßstab an die gesamte Bevölkerung anlegen müsste. Zudem zeigen jugendsoziologische Studien, dass bereits ab dem Alter von 12 bis 13 Jahren der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder schwindet und im Gegenzug der Einfluss der „peer groups”, also gleichaltriger Freunde und Bekannter, steigt.
Andere Altersgrenzen räumen jungen Menschen schon erheblich früher Verantwortung über ihr eigenes Leben und die Geschicke der Gesellschaft ein. Beispielsweise können Jugendliche bereits mit 14 Jahren ihre Religion selbst bestimmen. Mit 17 Jahren können sie sich als Zeitsoldat bei der Bundeswehr verpflichten (weswegen es in Deutschland minderjährige Soldaten gibt). Mit 16 Jahren können sie in Parteien eintreten und dort über Anträge, Wahlprogramme, Vorstände und Koalitionsverträge abstimmen – wie erst jüngst beim SPD-Mitgliedervotum im Dezember 2013 über den Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU – und somit einen Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen, der höhere Anforderungen an die politische Urteilskraft stellt als das Wahlrecht.
Bei der Bundestagswahl hat die junge Generation keine Stimme. Millionen Menschen sind pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen, nur weil sie unter 18 Jahre alt sind. Das darf nicht länger so bleiben. „Kinder haben Rechte. Kinder haben eigene Interessen. Kinder wollen ihr Leben selbst mitgestalten”, sagt die ehemalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD), die den Einspruch vor dem Verfassungsgericht unterstützt. „Kinder sollen und müssen deshalb auch wählen dürfen. Das Wahlrecht ist ein Grundrecht und steht allen Deutschen zu. Nur wenn wir den Kindern – also der Zukunft – eine Wahlstimme geben, werden auch wir Alten eine Zukunft haben.”
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