Ein Text von Kristina Maidt-Zinke, Literaturkritikerin, Süddeutsche Zeitung
„Marie Luise Kaschnitz“, hieß es in einer Besprechung der Frankfurter Ausstellung zum 100. Geburtstag der Dichterin, „kommt heute aus weiter Ferne zu uns.“ Das war vor dreizehn Jahren, und nach menschlichem Ermessen müsste die Ferne sich jetzt, da ihr 40. Todestag zu begehen ist, noch vergrößert haben. Aber vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends hat vieles sich so radikal gewandelt, dass manche Umwälzungen des vorausgegangenen Jahrhunderts dagegen blass aussehen. Und es mag sein, dass wir vor diesem Hintergrund einige Dinge, die wir längst eingeordnet zu haben glaubten, anders sehen und neu bewerten können – so auch den Abstand zwischen uns und Marie Luise Kaschnitz.
Vielleicht sind wir mittlerweile dahin gelangt, dass ihre adlige Herkunft, ihre notorisch „damenhafte“ Erscheinung und Contenance sich nicht mehr distanzierend zwischen uns und ihr OEuvre schieben, und dass wir auch das Klischee der „Trümmer-Autorin“, der Schriftstellerin „zwischen Tradition und Moderne“, die einerseits zu früh, andererseits zu spät geboren sei, nicht mehr in den Vordergrund zu stellen brauchen. Dann könnten wir uns ihren lyrischen, erzählenden und essayistischen Texten wieder unbefangener zuwenden, die in ihrem Werk verborgenen Schätze heben und für unsere Zeit wieder einmal neu sortieren.
„Ich höre die wilden heftigen Geräusche des Lebens und spüre die Sonne und den Eisregen auf der Haut“, schrieb die Kaschnitz ein Jahr vor ihrem Tod in Rom (der in einigen Quellen auf eine Lebensmittelvergiftung, in anderen auf eine Lungenentzündung nach herbstlichem Schwimmen im Meer zurückgeführt wird): „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht. Von dem man unter Umständen, vom Blitz getroffen oder vom Schwindel überkommen, hinabstürzt, nicht weil es so dunkel und einsam ist, sondern weil die Sonne übermächtig scheint.“
Was sie sah, wenn sie von jenem Alters-Balkon auf ihr Leben zurückblickte, war eine äußerlich von anschwellendem Ruhm geprägte, doch im Inneren von Brüchen und Widersprüchen durchsetzte Biografie, ein literarischer Weg, auf dem sie erst allmählich das Vertrauen in die eigene Stimme entwickelt und sich von überkommenen Denkmustern und Konventionen befreit hatte, um zu eigenständigen poetischen Ausdrucksformen und zu einer auch politisch selbstbestimmten Haltung zu finden.
Am Anfang steht die – keineswegs idyllische – Kindheit und Jugend der Offizierstochter Marie Luise von Holzing-Berstett in Potsdam und Berlin, dann die kurze Zeit auf dem Familiensitz im badischen Dorf Bollschweil, das ihr zur „Herzkammer der Heimat“ wird. Es folgt die Ausbildung zur Buchhändlerin in Weimar und München, das Gastspiel in einem Antiquariat in Rom, wo sie ihrer großen Liebe begeget, dem klassischen Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg. An seiner Seite wird sie in den folgenden Jahren immer wieder den Ort wechseln, Weltläufigkeit gewinnen, schließlich sich einpendelnd auf die drei Wohnsitze Frankfurt, Rom und Bollschweil. Die ersten erfolgreichen Schreibversuche am Ende der Zwanzigerjahre, dann die Nazizeit, in der sie, um des Überlebens willen, sich still verhält, wofür sie sich später selbst anklagt. Die schriftstellerische Karriere nach dem Krieg, die ihren Namen groß macht, schon 1955 gekrönt mit dem Büchner-Preis, bei dessen Verleihung sie erklärt: „All meine Gedichte waren eigentlich nur ein Ausdruck des Heimwehs nach einer alten Unschuld oder der Sehnsucht nach einem aus dem Geist und der Liebe neu geordneten Dasein.“
Es vollzog sich sodann, verstärkt durch die innere Krise nach dem Tod ihres Mannes, in ihrer dichterischen Arbeit jener Stilwechsel, der für manche Kritiker erst den Anfang einer nach modernen Maßstäben akzeptablen Dichtung markierte. Allzu befremdlich erschien nun der hohe Ton in den zuvor entstandenen Werken, ihre Zivilisationskritik, die von der Suche nach einem verlorenen und wiederzufindenen Daseinsgrund bestimmt war. Ihre Klage über die metaphysische Entwurzelung des Menschen, ihre Beschwörung der Humanität wurde in erster Linie als Reaktion auf die Erfahrungen im Dritten Reich rezipiert, obwohl sie, wie wir jetzt erkennen, durchaus einen zukunftsweisenden Aspekt hatte. Die Technik-Skepsis und der „Bildungssinn“, die in ihrem Schaffen bemerkt und zuweilen als rückwärtsgewandt missbilligt wurden, wären von heute aus neu zu betrachten.
Unumstritten bleibt, was sie in der nüchterneren, härteren, von metaphorischem Überschuss entschlackten Sprache ihrer letzten beiden Jahrzehnte verfasste. Ihr wacher, auf behutsame Weise kritischer Geist, ihre unablässige Arbeit an sich selbst, die ihre zur Jahrtausendwende herausgegebenen Tagebücher dokumentieren, hatten sie zu einer Persönlichkeit geformt, die sich im Alter auch jenseits des Dichterischen couragiert öffentlich äußerte: Gern wird an ihre Sympathie für die Frankfurter Hausbesetzerszene und an ihr Engagement für die Wahl Wahl Willy Brandts erinnert. Solche Signale können uns helfen, sie weltanschaulich einzuordnen; die Tiefen ihres literarischen Vermächtnisses aber sind noch längst nicht ausgeschöpft.
1984, anlässlich des 10. Todestages der Dichterin, rief die Evangelische Akademie Tutzing den Marie Luise Kaschnitz-Preis ins Leben, um Autorinnen und Autoren in ihrem Gedächtnis auszuzeichnen. Preisträger der vergangenen Jahre waren u.a. Thomas Lehr, Mirko Bonné, Pascal Mercier und Julia Franck. Die Auszeichnung des 16. Preisträgers – Lutz Seiler – wurde Ende September 2014 bekannt gegeben. Die Preisverleihung findet am 19. April 2015 im Rahmen einer öffentlichen Wochenend-Tagung statt, die sich mit dem Werk des Preisträgers auseinandersetzt. Mehr dazu finden Sie hier.
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