Himmel & Erde

Rückwärts in die Zukunft?

Vom 2.-4. Dezember 2016 fand die Tagung “Rückwärts in die Zukunft? Ein literarischer Kongress anlässlich 25 Jahre Zusammenbruch der Sowjetunion” statt. Wir haben zwei Mitglieder der Jungen Presse Bayern gebeten, die Tagung zu begleiten und zu dokumentieren. Herausgekommen sind viele tolle Fotos und Videos, die Dokumentation auf facebook und dieser Tagungsbericht. Wir bedanken uns herzlich bei Louisa Balthasar und Christopher Zentgraf für die tolle Arbeit!

Das lässt aufhorchen: „Rückwärts in die Zukunft?“ So lautete das Thema einer Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Dabei ging es nicht nur darum, einen Blick „rückwärts“ in die Vergangenheit zu werfen, und auch nicht nur darum, nach vorne und in die Zukunft zu schauen. Es wurde auch diskutiert, wie wichtig es für Vergangenheit und Zukunft ist, sich gründlich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Dies tun wir häufig viel zu wenig und oftmals auch zu spät, sodass es doch wieder ein Blick in die Vergangenheit wird…

Die Tagung beginnt mit der Begrüßung durch die Organisatorinnen Judith Stumptner und Kateryna Stetsevych, die uns direkt in das Thema einführen: Passend zu dem nahenden 25. Jahrestag der offiziellen Auflösung der Sowjetunion, wird es bei dieser Tagung um den Einfluss gehen, den dieses Ereignis bis heute und zukünftig für die Bevölkerung und die Entwicklung der neuen, unabhängigen Länder hat. Auch Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung hält eine kurze Rede, in der er die Bedeutung von Schriftstellern als Zeitzeugen betont, die damit wesentlich zum Verständnis und zur geschichtlichen Aufarbeitung beitragen können.

Das erste literarische Gespräch am Freitagabend dreht sich um die Geister der Vergangenheit – wie und ob sie uns heute beeinflussen, aber auch wie wir sie produktiv nutzen können. György Dalos, Katja Lange-Müller, Katja Petrowskaja und Martin Pollack lesen aus ihren Büchern vor. Es ist spannend zu sehen, wie vier unterschiedliche Autoren und Autorinnen auf dem Podium ihre Geschichten aufbauen und erzählen, aber dennoch alle über ähnliche Themen und Ereignisse schreiben: über die Zeit mit und kurz nach dem Niedergang der Sowjetunion. Am Samstagmorgen geht es weiter mit einem Blick in die Zukunft und der Frage, welche Zukunftsvisionen und -versionen es für die Länder der ehemaligen Sowjetunion gibt. Es diskutieren Christian Neef, Moskau-Korrespondent des „Spiegel“, Kateryna Mishchenko, freie Autorin und Michail Ryklin, russischer Philosoph. In der Diskussion wird betont, dass in mehreren Ländern der Ex-Sowjetunion oft noch maßgebliche Schritte fehlen, bis man von positiven und zuversichtlichen Zukunftsvisionen sprechen kann, da die aktuelle Politik oft „gewissenlos“ zu sein scheint und eine Aufarbeitung der Vergangenheit nicht im nötigen Maß stattfindet.

Als nächstes steht ein Gespräch zwischen Juri Andruchowytsch und seiner Tochter Sofia, die zum ersten Mal zusammen an einer Podiumsdiskussion teilnehmen, auf dem Programm. Es geht um Generationen, Erinnerungsräume und Bruchzonen. Beide Referenten beschreiben einen Wandel in der Gesellschaft, der seit dem Ablösungsprozess von der UdSSR vor sich geht, jedoch auch, dass die Literatur trotz der heutigen „Schnelllebigkeit“ in vielen Lebensbereichen eine langsame Kunst bleibt. Aber wie man es kennt, will „gut Ding Weile haben“.

Nachdem die historische Zäsur des Zusammenbruchs der Sowjetunion im bisherigen Verlauf der Tagung hauptsächlich im Spiegel der Literatur reflektiert wurde, wird als nächstes ein Film gezeigt: der Dokumentarfilm „The Event“ von Sergei Loznitsa. Ein überaus interessanter Film über das Ende der Sowjetunion, gefolgt von einem Gespräch mit dem Regisseur selbst über seine Ideen und den Weg zu diesem Film.

Anschließend fahren die TagungsteilnehmerInnen ins Literaturhaus nach München. Anhand der Lesungen wird klar, wie die Autoren Ingo Schulze, Nellja Veremej und Serhij Zhadan ihre Erfahrungen mit dem Sozialismus literarisch verarbeiten. Aus den Gesprächen geht hervor, dass viele Probleme der Sowjetunion nur verlagert wurden, dass es aber auch Vorteile am Sozialismus gab, die in der heutigen Diskussion oftmals in den Hintergrund rücken. Zhadan ist der Meinung, dass die Nostalgie, die manche Menschen für die ehemalige Sowjetunion empfinden, die Zukunftsbilder versperren. Schulze findet, dass die Poesie eine Gegenkraft dessen darstellt und es deshalb die Aufgabe der Schriftsteller ist, scheinbar Unmögliches vorzudenken und zu versuchen, den Leuten die Augen zu öffnen. Für einen runden Abschluss dieses schönen Abends sorgt die Musik von Mariana Sadovska.

Wie es oft ist mit dem Sprechen und Gesprächen: Man möchte Fragen beantwortet bekommen, aber dennoch entwickeln Diskussionen oft ein Eigenleben – aber ist nicht gerade das das Wunderbare am Austausch vieler verschiedener Menschen? So ist es auch bei der letzten Diskussionsrunde der Tagung, bei der es um das Thema Sprache geht und um die Frage, ob es einer neuen Sprache bedarf? Für diese Diskussion sind Alexandr Skidan, Artur Klinau und Nicoleta Esinencu angereist. Es wird um die Frage gehen, welche Wechselwirkungen zwischen Sprache, Literatur, Autoren und auch Lesern bzw. Zuschauern entstehen. Zu Beginn hält Skidan jedoch zuerst einen Vortrag über die Auswirkungen und Veränderungen durch die russische Politik seit 2005. Seit diesem Zeitpunkt gehe es nur noch um die Legitimation des neuen Regimes, und plötzlich spricht er über Designer-Klamotten des Labels „Russian Army“. Ein großes Fragezeichen hängt in der Luft, bis er beginnt zu erklären: Dieses Label vertreibt „militärisch-angehauchte“ Klamotten, hat aber eigentlich nichts mit dem Militär zu tun. Vertrieben werden diese Klamotten in vier Läden in Russland, drei davon in Moskau, einer direkt gegenüber des amerikanischen Konsulats.

Für Skidan scheint dies wie Propaganda für den russischen Patriotismus zu sein, er findet jedoch, dass dies vor allem zu Verwirrung in der Bevölkerung führt. (Aus dem Podium kommt später der Beitrag, dass einst jemand sagte: „Der Sozialismus siegt erst, wenn die Mode aus Moskau kommt.“ – Ist das ein Zeichen? Eine Antwort? Skidan meint, dass man hieran vor allem sieht, welche Vorbildfunktion der Westen für Russland erfüllt, obwohl es in Russland eigentlich aufgesetzt wirke.) Artur Klinau beschreibt das Gefühl, dass man manchmal gute Ideen für Texte hat, diese Ideen aber schnell nicht mehr aktuell sind oder nicht das sind, was die Leute brauchen. Und an dieser Stelle braucht es oft keine Sprache, keine Worte, denn manchmal ist es Zeit zu schweigen. Nicoleta Esinencu hingegen sagt, dass es ihr wichtig ist, dass die Leute sich zu ihren Theaterstücken äußern, denn alles sei besser, als wenn niemand etwas sagt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion empfand sie in Moldawien das Gefühl der „Spracharmut“, da es um wichtigere Dinge ging: Die finanzielle Situation der Familie zu verbessern, auch die Politik stand erst an zweiter Stelle. Und sie betont, dass die ehemaligen Sowjet-Staaten oft Gefahr laufen, ihre Erinnerungen zu verlieren. Hierzu gibt sie ein extremes Beispiel: Nach jeder Wahl in Moldawien werden die Schulbücher ausgetauscht, das heißt jede neue Regierung kann die Geschichte anders darstellen. Über den Holocaust stehe allerdings in keinem dieser Geschichtsbücher etwas, obwohl Moldawien davon auch sehr stark betroffen war.

Nach dieser interessanten Diskussion über Sprache kommen wir schließlich noch in den Genuss einer „musikalischen Lesung“, bei der Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan noch einmal Gedichte auf Deutsch und Ukrainisch vorlesen, begleitet durch die musikalische Interpretation einiger dieser Texte von Mariana Sadovska.

Als am Schluss alle Koffer und Taschen wieder gepackt sind, verlassen wir Tutzing also nicht nur mit literarischen Eindrücken aus der Poesie und Prosa, Einblicken in die Politik und in die Arbeit zu Filmen, sondern auch mit musikalischen. Wir gehen mit dem gleichen Gepäck und sind doch reicher: An Wissen, Erfahrungen und Impulsen. Wir sind nach unserem Blick #rückwärtsindiezukunft wieder in der Gegenwart angekommen. Danke an alle interessierten Tagungsteilnehmer, die die Diskussionen mit ihren Ideen und Fragen bereichert haben. Ein herzliches Dankeschön auch nochmal an alle Referenten, die uns an ihrem Wissen und ihren Geschichten teilhaben ließen und unser Interesse geweckt haben! Interviews mit einigen Referenten und auch mit zwei Tagungsteilnehmern finden Sie auf dem Youtube-Kanal der Akademie unter dem Stichwort “Rückwärts in die Zukunft?”: https://www.youtube.com/user/EATutzing

(Text: Louisa Balthasar / Fotos/Videos: Christopher Zentgraf) / Rechts im Bild: Juri Andruchowytsch & Mariana Sadovska

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