In der Ausgabe des Münchner Merkur vom 24./25. Mai 2017, S. 4, widerspricht Akademiedirektor Udo Hahn zu Beginn des Evangelischen Kirchentags der Kritik prominenter Politiker, dass Kirche sich aus der Politik herauszuhalten habe. „Die Kirche will nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen“, schreibt Hahn und fordert: „Die Kirche muss politisch sein.“ Nachfolgend sein Kommentar im Wortlaut:
„Das Verhältnis von Kirche und Politik ist immer wieder ein Anlass, ganz grundsätzlich zu fragen, ob die Kirchen ihre Stimme erheben dürfen – oder nicht. Prominente Protestanten wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und sein bayerisches Pendant Markus Söder haben sich klar positioniert. Ersterer kritisiert die evangelische Kirche für ihre Einmischung in Politik und Wirtschaft, Letzterer forderte die Kirchen auf, sich generell aus der Politik herauszuhalten. Von den Kirchen werden solche Forderungen regelmäßig zurück gewiesen. Fromm und politisch sein gehöre für sie selbstverständlich zusammen, heißt es meist kurz und knapp.
Dass die Kirchen sich zu Wort melden, hat mit ihrem Selbstverständnis zu tun, wie ein Blick in die Bibel zeigt. „Suchet der Stadt Bestes“, rät der Prophet Jeremia (29,7). Und im Neuen Testament zeigt Jesu Mahnung zur Nächstenliebe, dass diese nicht nur den Landsleuten gilt, sondern eine darüber hinausgehende Solidarität meint. Dass die Kirchen für Frieden und Versöhnung eintreten, wird niemand ernsthaft als unbotmäßige Einmischung in die Politik kritisieren. Bei näherem Hinsehen geht es um die Frage, wie konkret Bischöfinnen und Bischöfe, der Papst, Kardinäle, Synoden, Pfarrerinnen und Pfarrer sich positionieren dürfen, sollen oder gar müssen.
Dass dabei viel auf dem Spiel steht, zeigt ein Blick in die Historie. Das so genannte Bündnis von Thron und Altar war für die evangelische Kirche seit der Reformationszeit bestimmend. Es endete im Jahre 1919. Erst seit dieser Zeit ist sie organisatorisch eigenständig. Dass die Kirche die Weimarer Republik mit ihrer jungen Demokratie unterstützt hätte, lässt sich nicht behaupten. Und dass sie im Dritten Reich als Ganze Widerstand geleistet hätte, auch nicht. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Kirche seither explizit von einem Öffentlichkeitsauftrag spricht, manche sogar ein Wächteramt reklamieren. Nie wieder will sie sich vorwerfen lassen, sie hätte die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Es hat übrigens bis in das Jahr 1985 gedauert, ehe die evangelische Kirche in ihrer Demokratie-Denkschrift den Staat des Grundgesetzes würdigte – und feststellte: „Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen.“ Deshalb fordern die Kirchen eine soziale Gestalt von Demokratie und Wirtschaft. Die Haltung, die sie einnehmen, geht u.a. auf den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer zurück, der im Konzentrationslager in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs ermordet worden war. Er empfahl den „Blick von unten“ – die Perspektive der Notleidenden und Verfolgten.
Im Grunde geht es um die Verantwortung der Kirchen für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Protestantismus, so haben es die beiden Münchner evangelischen Theologieprofessoren Christian Albrecht und Reiner Anselm in einer lesenswerten Publikation (Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums, Theologischer Verlag Zürich) gerade formuliert, ist dem Ganzen der Gesellschaft verpflichtet – dem Gemeinwohl.
Im Anschluss an einen Kommentar von Richard von Weizsäcker im Jahre 1996 hat sich im Protestantismus die Formel durchgesetzt: Die Kirche will nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen. Dabei ist sogar der Rückgriff auf Martin Luther möglich. Manche seiner Schriften lassen sich durchaus als Politikberatung begreifen.
Kirchliche Äußerungen zu politischen Themen entspringen keiner höheren Weisheit, sondern müssen sich dem Diskurs stellen. Ihre Beiträge zielen darauf, dass Lösungen strittiger Fragen ausgehandelt werden können. Hier geht es um Schärfung der Gewissen der Verantwortungsträger. Und darum, ihre Mitglieder zu ermutigen, sich in der Politik zu engagieren und sich in die Zivil- bzw. Bürgergesellschaft einzubringen.
Die Kirchen sehen heute ihre Rolle weniger im Gegenüber zum Staat, sondern vielmehr als Teil der Zivilgesellschaft. Diese markiert etwas Eigenständiges, das weder staatlich reglementiert noch dem Diktat des Marktes unterworfen ist. Die Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens wird davon abhängen, ob die Akteure der Zivilgesellschaft – und damit auch die Kirchen – es schaffen, eine eigenständige Rolle zwischen Staat und Markt zu spielen: als intermediäre Institutionen. Den Kirchen kommt neben der Vermittlerrolle in besonderer Weise die Aufgabe zu, als Anwalt von Freiheit und Verantwortung sowie als Fürsprecher einer Kultur des Helfens aufzutreten. Deshalb muss die Kirche politisch sein.“
Udo Hahn
Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing