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Lob des Erwachsenseins

Der Soziologe, Organisationsberater und Supervisor  Ronny Jahn fordert: “Mehr Diskurs – weniger Utopie”. Keinesfalls möchte er das als “Aufgalopp einer im Kern konservativen Diffamierung gesellschaftlichen Aufbruchs” interpretiert haben. Vielmehr geht es ihm um zwei Fragen: die nach den gesellschaftlichen Herausforderungen sowie die nach Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten. 

Von Dr. Ronny Jahn

Erwachsensein scheint außer Mode gekommen. Eltern kleiden sich wie ihre Kinder. Lehrerinnen und Lehrer begeben sich auf Höhe der Augen ihrer Schülerinnen und Schüler. Die Praxis des Duzens ersetzt vermeintlich distanziertes Siezen. “Daumenhoch” jubiliert im virtuellen Raum und lässt Nutzerinnen und Nutzer vergeblich nach dem “Kritik-Button” suchen. Der Ruf nach Partizipation übertönt die Fragen der Entscheidung und Verantwortung. Utopisches Denken schlägt kompromissorientiertes realpolitisches Handeln. Vor diesem Hintergrund kann der Titel: “Lob des Erwachsenseins. Mehr Diskurs – weniger Utopie”, als Aufgalopp einer im Kern konservativen Diffamierung gesellschaftlichen Aufbruchs interpretiert werden. Nichts liegt mir ferner als das. Vielmehr werbe ich für die Erörterung zweier Fragen. Erstens, auf welche gesellschaftlichen Herausforderungen könnte die oben skizzierte “kollektive Infantilisierung” eine Antwort sein? Und zweitens, wofür wäre unsere Antwort funktional oder dysfunktional?

Utopie und Erwachsensein, zwei Begriffe mit diffus-normativer Wucht, die jeden Diskurs schnell sprengen kann.

Hier hilft, das eigene Begriffsverständnis zu explizieren. In die Zukunft gerichtet entwerfen Utopien ein Bild eines lebenswerteren und gerechteren Lebens. Utopie zielt auf radikale Veränderung und grenzt sich vom Hier und Jetzt der Gegenwart ab. Hohe Bindungskräfte entfalten Utopien, gerade weil sie – schier endlos – (noch) nicht Gegenwart sind. Sie verlieren an Kraft, wird Utopie zur begrenzenden Gegenwart. Im Unterschied dazu bedeutet Erwachsensein ernüchternde Besinnung insofern, als das Erwachsensein zu einem Mindestmaß Bedürfniskontrolle, Erkennen von Abhängigkeit und Endlichkeit sowie die Integration widerstreitender Welterfahrungen impliziert. Die Welt ist nicht mehr schwarz oder weiß, sondern “meliert”. In diesem Sinne stehen Utopie und Erwachsensein in einem mehr oder weniger produktiven Spannungsverhältnis.

Nicht jede notwendige Veränderung ist utopisch.

Unter Utopien fasse ich Ideen, die im Wesentlichen auf Gleichheit, Herrschaftsfreiheit und die Verkündung von Wahrheiten zielen. Die drängende Bewältigung der Klimakrise bedarf damit weniger utopischer Energien, als vielmehr der konsequenten Bündelung vorhandener kollektiver kognitiver, sozialer und finanzieller Ressourcen. Zur Utopie werden Ideen in notwendigen Veränderungsprozessen, wenn sie – einer Erlösungsphantasie gleich – nach Entdifferenzierung suchen. Dogmatismus ist dann die (unbeabsichtigte) Folge nicht selten guter Absichten. Unterschiede werden dethematisiert und so vermeintlich ausgeräumt. Max Horkheimer formulierte: “Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit, je mehr Gleichheit, desto weniger Freiheit.” Erwachsensein heißt für mich hier, unauflösbare Widersprüche als solche anzuerkennen und (aus-)zuhalten. Das Gegenteil davon kann als “kollektive Infantilisierung” begriffen werden. Der Wunsch des Auflösens unauflösbarer Widersprüche in Gestalt von Utopien.

Utopien als kollektive Antwort auf eine ausdifferenzierte Welt.

Folgen wir probeweise der “Diagnose” einer gesamtgesellschaftlichen kollektiven Infantilisierung, stellt sich die Frage, wofür sie nützlich ist. Ich denke Utopien helfen uns dabei, uns der dauerhaften Aufforderung nach streitbarer Positionierung, Entscheidung und Sinnfindung in einer ausdifferenzierten Welt einstweilen zu entziehen. Sie bieten Wahrheiten in einer Welt, in der keine Wahrheiten mehr existieren. Utopien geben Sicherheit in unsicheren Zeiten. Unsicherheit ist in diesem Zusammenhang vor allem die Folge dramatisch gestiegener individueller und kollektiver Freiheitsgrade. Sie eröffnen unüberschaubare Handlungsräume und werfen uns auf uns selbst zurück. In dieser Gemengelage sind Utopien eine funktionale Antwort. Mit ihr ist es uns möglich, eine nicht mehr auf einen Fixpunkt zusammenführende Welterfahrung erfolgreich abzuwehren. Utopien bieten heilsame Ordnung in einer immer weniger verständlichen Welt.

Diskurse als Orte des Übersetzens und Verstehens.

Unterstellen wir, dass es kein Zurück zu einer entdifferenzierten Welt gibt, müssen wir uns fragen, ob Utopien für die Bewältigung unumkehrbarer Unübersichtlichkeit das Mittel der Wahl sind. Ich denke, nein. Wollen wir diese Welt miteinander gestalten und errungene Freiheiten in die Zukunft tragen, kommen wir nicht umhin Diskurse zu führen und miteinander zu streiten. Diskurse bedingen streitbarer Argumente und Differenzverträglichkeit. Differenzverträglichkeit steht im Gegensatz zur Nivellierung von Unterschieden in jedweder Hinsicht, sie bedarf der Sensibilisierung und dem Thematisieren von Unterschieden. In Diskursen – dem Habermas´schen “Streit ums vorläufig bessere Argument” – verliert man mal und mal gewinnt man. Weil Utopien strukturell der Idee von Gleichheit folgen und auf “Letztwahrheiten” setzen, sind sie für das Einrichten und Ausfüllen diskursiver Räume eher dysfunktional. Sie tendieren zur Abschottung und erschweren so die für Diskurse notwendige sensitive und gedankliche Freiheit. Erst im zugewandten Streit der Argumente aber, im Sichtbarmachen von Unterschieden, lernen wir kollektiv Konflikte auszutragen und zu halten. Differenzorientierte Diskurse – und nicht die utopische Idee einer unterschiedslosen Welt – sind damit eine wesentliche Basis demokratischen Zusammenlebens. Sie sind herausfordernde Orte der Übersetzung und des Verstehens. In diesem Sinne: Lob des Erwachsenseins – Mehr Diskurs, weniger Utopie.

 

Zum Autor:
Dr. Ronny Jahn ist Studiengangsleiter des Studiengangs Leadership und Beratung an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin, Geschäftsführender Gesellschafter des Berliner Beratungsunternehmens Person und Organisation (p+o) sowie Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv).

 

Hinweis:

“(K)ein Ort für Utopien?” heißt die Online-Tagung am 16. März 2021, auf der Dr. Ronny Jahn neben weiteren Referierenden unser Gast sein wird. Informationen zu Programm und Anmeldemodalitäten können Sie unter diesem Link abrufen.

 

Bild: Dr. Ronny Jahn (Fotonachweis: Monika Keiler)

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1 Kommentar

  1. Barbara Cäcilia Gärtner says:

    Herzlichen Dank an Herrn Jahn für die Beschreibung des Themas – Ideen für Zuversicht in unserem Alltag können wir gebrauchen, ich bin gespannt auf diese Tagung.
    Jede Veränderung, ” Heilung “, braucht zuvor die sorgfältig gestellten Diagnosen von sozialen Bedingungen, die zu ” Leiden ” führen: Beiden Begriffen gilt der differenz-orientierte Diskurs.
    Die EAT ist ein wunderbar realer – mit dem Blick über den See ins Alpenpanorama – Knotenpunkt für Zeitgenossen – auch aus der Ferne!

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