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Digitalisierung braucht Philosophie

Digitalisierung ist ein bisschen wie Fußball: Alle reden darüber, alle sind auf Abruf und umgehend mit Expertise ausgestattet, aber so richtig Ahnung davon haben wenige. Mit der Philosophie ist es ähnlich. Es ist Zeit, das zu ändern. Digitalisierung und Philosophie sind eng miteinander verwoben. Wenn wir den digitalen Wandel aktiv mitgestalten wollen, müssen wir Fragen der politischen Philosophie klären und „auf Vorrat“ denken.

Im folgenden Text skizziere ich, was wir bei „der Digitalisierung“ verstehen müssen (1), warum Philosophie so relevant ist wie nie zuvor (2) und wie politische Philosophie Antworten auf den digitalen Wandel geben kann (3).

1. Digitalisierung muss neu verstanden werden.

Man nehme eine Prise „Blockchain“, die belebend oft referierte „künstliche Intelligenz“ oder auch gerne die guten alten „Filterblasen“. Anschließend wähle der informierte Digitalisierungsexperte eines der Lieblings-Digitalisierungswörter aus, nenne ein gesellschaftspolitisches Problem von Bedeutung und schlage in einem Ein-Seiter die gar bewusstseinsverändernde Lösung durch die neue Kulturtechnik vor. Fertig ist der nächste Zeitungs-Beitrag – eine wilde Aneinanderreihung von Schlagwörtern auf der Suche nach Relevanz.

Ich überspitze natürlich. Dennoch finde ich: Digitalisierung ist ein bisschen wie Fußball: Alle reden darüber, alle sind auf Abruf und umgehend mit Expertise ausgestattet, aber so richtig Ahnung haben wenige.

So überschätzen wir wahrscheinlich den Einfluss sozialer Medien auf den Politikbetrieb. In den USA hat der Online-Wahlkampf vielleicht ein Prozent des Wahlergebnisses ausgemacht, und das bei über einer Milliarde Dollar Investitionen in den Wahlkampf – jeweils bei Republikanern und Demokraten! Verglichen mit dem Online-Wahlkampfbudget deutscher Parteien, die innerhalb der zwei Monate vor der Europawahl in diesem Jahr jeweils nur maximal 220.000 Euro ausgegeben haben, sollten wir nicht zu häufig aufgrund der Zunahme zielgruppenspezifischer Parteienwerbung auf Facebook das Ende der Demokratie am Horizont aufziehen sehen.

Mehr Daten ≠ weniger analog. Daten spielen im politischen Wettbewerb dennoch eine zunehmend bedeutende Rolle, beispielsweise im klassischen Haustürwahlkampf, der in den letzten Jahren eine Renaissance erfährt. Inzwischen sind es Datenmodelle, mit deren Hilfe berechnet werden kann, an welchen Türen es sich lohnt, zu klingeln. Der Kern der Interaktion bleibt jedoch analog. Direkter Kontakt zu politischen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern ist so nachgefragt wie selten zuvor. Das politische Gespräch im direkten Kontakt wird wieder wichtiger.

Große Datenmengen führen zudem nicht zwangsweise zu neuen Machtzentren in Wirtschaft oder Politik. Bis auf Facebook sind bisher fast alle Big-Data-Geschäftsmodelle, die nicht auf Werbung basieren, gescheitert – auch wenn sie zu Beginn erfolgsversprechend aussahen. Das bisher einzige profitable Geschäft mit großen Datenmengen fährt Facebook. Der Konzern ist aufgrund der herausragenden Machtstellung und fragwürdiger Entscheidungen in der jüngeren Zeit in den USA ordentlich unter Beschuss.

2. Philosophie ist brandaktuell.

Weniges klingt so analog, so alt, so verstaubt, wie das Wort Philosophie. Manchen erscheint Philosophie als schöngeistiger Firlefanz. Umgangssprachlich ist „rumphilosophieren“ ein Synonym für „nicht zum Punkt kommen“.

Wer so denkt, verkennt aber, wie grundlegend diese scheinbar trockene Disziplin für uns ist. Wer philosophiert, ist immer wieder bereit, das Leben, seine eigene Rolle, seine eigenen Annahmen, Argumente, oder Wertevorstellungen infrage zu stellen. Er geht dabei durch die harte Schule des klaren Denkens. Kurz gesagt: Philosophische Praxis ist eines der Erfolgsrezepte für neue Erkenntnis =>  #I♡science.

Das ist manchmal anstrengend, aber mindestens genauso bereichernd. Die meisten Menschen hören auf sich zu wundern, wenn sie erwachsen werden. Wer philosophiert, bleibt jedoch ein staunendes Kind, das die Geheimnisse des Lebens intensiver spürt, und sich manchmal wie „Alice im Wunderland“ fühlt. Das griechische Wort φιλοσοφία (philosophía) bedeutet „Liebe zur Weisheit“. Die Leidenschaft zur Erkenntnis, zu Weisheit, auch zu Fakten ist mittlerweile seit 2600 Jahren angesagt.

Auf neudeutsch könnte ich die kultivierte „Liebe zur Weisheit“ vielleicht als „Bullshit-aversion“ betiteln. Im politischen Kontext ist eine solche Abneigung, oder zumindest solide Skepsis der klaren Bevölkerungsmehrheit in Demokratien gegenüber falschen Argumenten und „alternativen Fakten“ aus mindestens zwei Gründen noch wichtiger geworden: Erstens ist der tägliche Medienkonsum gestiegen. Zweitens kann jeder und jede Nachrichten versenden und zum Nulltarif ungeahnte Reichweiten erzeugen. Der Konsens, was als ausgewogene oder tendenziöse Sicht auf die Welt gelten kann, geht zunehmend verloren.

Die Entscheidung von Facebook, in den USA „die Nutzer“ selbst über die Seriosität eines „politischen Angebots“ entscheiden zu lassen, ist bei der Vielzahl an Möglichkeiten und der Leichtigkeit, Bilder, zunehmend Videos, als auch Fakten zu verfälschen, an Naivität kaum zu überbieten.

Der deutsche Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer hat Philosophie einmal als „Denken auf Vorrat“ bezeichnet. Das ist in diesem Fall nicht passiert. Möglicherweise kostet diese fast schon rotzige Begründung Zuckerbergs gegenüber dem U.S.-amerikanischen Senat, politische Inhalte, die faktisch falsch sind, nicht löschen zu wollen, langfristig die Möglichkeit, weiterhin verhältnismäßig frei in der derzeitigen Größenordnung unternehmerisch tätig zu sein.

3. Bei der Gestaltung von Digitalisierung kann uns politische Philosophie helfen.

Wie wir als Gesellschaft in Zukunft leben werden und wollen, muss auch philosophisch verhandelt werden. Zwei Beispiele.

Digitalisierung und Souveränität: Was bedeutet politische Souveränität in einer digitalisierten Welt? Wie stellen wir individuelle Souveränität, beispielsweise in Form der informationellen Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern sicher, wenn die Menge und Komplexität von Daten immer mehr zunehmen? Was bedeutet staatliche Souveränität, wenn Hackerangriffe auf kritische Infrastrukturen ein Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten werden? Was passiert, wenn sich Räume im Internet zunehmend politisieren? Welche Implikationen hat das für unser Grundverständnis der Staatlichkeit mit der drei Elemente-Lehre Georg Jellineks von Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet? Kann es überhaupt Staatlichkeit ohne ein Staatsgebiet geben?

Digitalisierung und Gerechtigkeit: Technik und ethische Überlegungen müssen zusammen gedacht werden! Aufgrund des zunehmend solide erforschten Umstands, dass Menschen im Schnitt eher dürftige Entscheidungs- und Einschätzungskompetenz an den Tag legen, sehen eine Vielzahl an Akteuren technokratische Lösungen, die den „human error“ reduzieren, hoffnungsvoll entgegen. Technik ist jedoch nicht neutral. Sie ist immer zweckgebunden designt. So häufen sich die Erkenntnisse, dass automatisierte Systeme zu unfairer Behandlung führen können: Auf Google etwa wurden weiblichen Arbeitsuchenden weniger häufig Anzeigen für leitende Positionen angezeigt. Im Kern bedeutet die Vernetzung von Informationen insbesondere mit Hilfe von biometrischen Daten (z.B. Gesichtserkennung), dass die eigene Biografie für zukünftige Entscheidungen eine größere Rolle spielt. Ist es gerecht, wenn wir uns zunehmend unserem eigenen digitalen Profil nicht entziehen können? Ähnliche Fragen stellen sich im Bereich der Gesundheitsversorgung oder der Justiz. Hierbei ist es jedoch wichtig nicht nur das zu sehen, was nicht läuft. Lässt man den eklatanten Unterschied zwischen globalem Süden und globalem Norden außen vor, dann lässt sich sagen: Vielleicht gab es noch nie so eine Gerechtigkeitsmaschine in der Geschichte der Menschheit: Der Zugang zu einem Gros an Informationen und Kulturgütern war in vielen Ländern noch nie so gleich verteilt und noch nie war es so leicht, sich einem großen Publikum mitzuteilen.

Die Entstehung von Plattformökonomien verändert auch die Arbeitswelt. Wollen wir als Gesellschaft zulassen, dass beispielsweise Uber-Fahrer nicht dauerhaft angestellt sind und so traditionelle Mechanismen des Arbeitnehmerschutzes ausgehebelt werden? Ist ein Rentensystem noch gerecht, dass durch zukünftig häufigere Arbeitgeberwechsel bedingte Karrierepausen mit einem stärkeren Abbau der Rentenansprüche sanktioniert?

Wenn wir die Welt von morgen gestalten wollen, müssen wir sie auch denken – und zwar im Voraus. Wir brauchen mehr Räume, in denen Philosophen, Praktiker, und interessierte Menschen verschiedener Generationen zusammenkommen, um in diesen so wichtigen Bereichen „auf Vorrat“ zu denken und die nächsten Schritte zu gehen. Philosophie als analoge Praxis des Denkens hat auch die Chance einen Anknüpfungspunkt für diejenigen Generationen zu schaffen, die bei Smartphones und anderen digitalen Gebrauchsgütern des 21. Jahrhunderts nur Bahnhof verstehen. So digital die Welt von morgen auch sein mag, so bedeutend ist das Analoge, um sie gemeinsam zu verstehen und zu gestalten.

 

Dr. Julian Zuber ist Politik- und Unternehmensberater für den öffentlichen Sektor und Aktivist, Mitgründer von Polis180, einem Grassroots-Thinktank zu Außen- und Europapolitik, Gründungsmitglied von GermanZero, sowie ehemaliges Vorstandsmitglied der Münchner Grünen. Er hat an der Hertie School of Governance und Oxford promoviert, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Philosophie und Wirtschaft an der Universität Bayreuth studiert. Er ist einer der Botschafter der #FreeInterrailkampagne.

Am 7. Dezember leitet Julian Zuber auf der Tagung „Diskursiver Funkenflug. Digitalethik & junge Philosophie“ einen Workshop zum Thema „Hype oder Hoffnungsschimmer? Technologische und ethische Perspektiven von Machine Learning im öffentlichen Sektor“. Weitere Informationen hier.

Hinweis:
Dieser Blogbeitrag ist zugleich aktuelle Gastkolumne im Dezember-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing, der am 29. November 2019 erscheint. Nähere Informationen hier.

Bild: Julian Zuber (Foto: Schwarzkopf Stiftung / Adrian Jankowski)

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